Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
Vom Netzwerk:
der erste November. Ich erzählte niemandem, dass ich an diesem Tag Geburtstag hatte. Einen Geburtstag ohne Olivia zu feiern war schlimmer, als ihn einfach in Vergessenheit geraten zu lassen. Ich fühlte mich wie Ikarus auf dem Gemälde: Er fiel ins Meer, alles, was man sehen konnte, waren seine Beine, und im Vordergrund pflügte der Bauer mit seinem Pferd ungerührt weiter.
    Ich lag im Garten auf dem Picknicktisch in der Kälte und rieb meine Wange an der blauen Kaschmirschulter. An der Vorderseite war bereits ein kleines Loch. Ich krümelte den letzten Rest des Joints in eine Bierdose, dann warf ich die Dose über den hinteren Zaun, worauf der Hund des Nachbarn zu bellen anfing. Ich wünschte, der BMW -Mann wäre hier – es war seine Zeit – und Olivia würde Oliver Nelsons »Stolen Moments« spielen. Sie hätten ein Feuer im Kamin angezündet, würden langsam tanzen, so wie Olivia mit mir getanzt hatte; er würde ihr ins Ohr flüstern, so wie sie mir ins Ohr geflüstert hatte. Jetzt konnte ich zwar tanzen, doch sie hatte mir die Musik genommen.
    Ich zog den Pullover enger um mich und blickte zum verschleierten Mond hinauf. Aus dem Haus drang Gelächter, Marvel und Ed, die im Schlafzimmer Lenos »Tonight-Show« sahen. Ich hatte ihr gerade das Haar gefärbt, Farbnote »Herbstflamme«. Ich zitterte unter den feuchten Nebellaken auf dem Gartentisch, konnte immer noch das Färbemittel an meinen Händen riechen und dachte an das Kind Achilles. Doch dies hier war keine vorsätzliche Prüfung, und die einzigen Sterne am Himmel waren Flugzeuge, die den Flughafen Burbank aus westlicher Richtung anflogen.
    Ich dachte daran, dass auf Hawaii jetzt gerade die Sonne unterging und in Bombay ein heißer, curryduftender Vormittag war. Dort sollte ich jetzt besser sein. Ich würde mir das Haar schwarz färben, eine Sonnenbrille tragen und sie alle vergessen: Olivia, Marvel, meine Mutter, einfach alles. Warum hatte sie mir nicht erzählt, dass sie verreisen würde? Dachte sie, es interessiere mich nicht; wusste sie denn nicht, wie sehr ich auf sie angewiesen war? Ich fühlte die Hoffnung durch meine Finger gleiten wie Fischsaft.
    Bin ich ein Unglücksbote, ein Stück Abfall, das von Bord einer Raumkapsel ins All geschleudert wird? Niemand, der mich sieht, niemand, dem es auffällt. Ich wünschte, ich wäre wieder bei Ray, wünschte, er könnte mich mit seinen Augen festhalten, mich wieder zur Erde zurückbringen. Mir war ganz schwindlig davon, so schwerelos dahinzutreiben, kreiselnd unter dem weißen Leuchten der Mondfelsen und der Begräbnisstille der Zypressen zu schweben. Keine Jacarandablüten mehr. Eine Landschaft, die van Gogh gemalt haben könnte.
    Ich hatte genug von dem Mond, der so gleichgültig auf mich herabblickte, genug von der lunaren Landschaft mit ihren weißen Felsen. Ich brauchte eine dickere Decke, mehr Schutz. Ich schlüpfte durch den Maschendrahtzaun und schloss das Tor lautlos hinter mir. Die Orangen, die noch an den Bäumen hingen, verbreiteten ihren harzigen Geruch in der feuchten Luft und erinnerten mich an Olivia. Und dann musste ich an meine Mutter und ihre Zähne denken, an ihr Vitamin C. Mein lächerliches Leben. Ich ging durch die knirschenden Blätterhaufen, die sich auf den ungekehrten Bürgersteigen türmten, und summte eine bittersüße Melodie von Jobim vor mich hin. Zurück zum Absaugen des Morgentaus von den Segeln. Ich hätte wissen müssen, wie es enden würde. Ich sollte doch inzwischen so schlau sein, nichts mehr vom Leben zu erwarten, statt dem Stockholm-Syndrom zum Opfer zu fallen.
    Ein weißer Hund tauchte aus dem Nebel auf, und ich rief nach ihm, froh über etwas Gesellschaft. Noch ein Streuner. Doch er bellte mich an, so heftig, dass sich seine Vorderpfoten vom Bürgersteig hoben. »Hör auf zu bellen, alles in Ordnung.« Ich ging auf ihn zu, um ihn zu streicheln, aber in dem Moment tauchte ein weiterer Hund auf, ein brauner, und dann noch ein dritter, ein Husky mit blauen Augen.
    Der braune Hund fletschte die Zähne. Der große Husky bellte. Ich wusste nicht, ob ich weitergehen oder langsam den Rückzug antreten sollte.
    »Geht nach Hause«, sagte ich. Sie versperrten mir den Weg. Ich schrie und hoffte, sie auf diese Weise zu verscheuchen oder jemanden auf mich aufmerksam zu machen, doch die Häuser hatten der Straße ihre ausdruckslosen Garagengesichter zugekehrt. »Verschwindet!« Ich ging langsam rückwärts, doch jetzt rannte der kleine Hund auf mich zu, machte einen Satz und

Weitere Kostenlose Bücher