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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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wusste, was sie wollten, und konnte es ihnen geben oder nicht. Wozu sollte sie mich schon brauchen? Sie konnte sich einen Georg-Jensen-Armreif oder eine Roblin-Vase kaufen.
    Um die Weihnachtszeit wurde es wieder heiß. Dichter Smog lag über dem Tal wie ein ausgedehnter Kopfschmerz und verfinsterte die Berge. Olivia war zurückgekehrt, doch ich hatte sie noch nicht gesehen, nur die untrüglichen Zeichen ihrer Anwesenheit: Warenlieferungen und Männer. In Marvels Haus setzten hektische Weihnachtsvorbereitungen ein. Wir schleiften den grünen Metall-Weihnachtsbaum aus der Garage, schmückten alle Türen und Fenster mit bunten Flitterketten, die aussahen wie Flaschenreiniger, stellten den Plastik-Schneemann in den asphaltierten Vorgarten und zogen den beleuchteten Weihnachtsmann in seinem Rentierschlitten auf das Dach.
    Verwandte kamen zu Besuch, und ich wurde ihnen nicht vorgestellt. Ich reichte Knabberzeug und Käsehäppchen herum. Sie machten Gruppenfotos, doch niemand lud mich ein, mich dazuzusetzen. Ich trank Eierflip aus der Punschschale der Erwachsenen, feurig angereichert durch Bourbon-Whiskey, und ging nach draußen, als ich es nicht mehr aushielt.
    Ich saß im Dunkeln in dem kleinen Spielhaus und rauchte eine Tiparillo, die irgendjemand in einem Päckchen draußen vergessen hatte. Ich konnte die Weihnachtskassetten hören, die Marvel rund um die Uhr abspielte: »Joey Bishops Weihnachtsfest«, »Neil Diamond in Bethlehem«. Starr hatte wenigstens an Christus geglaubt. Wir waren in die Kirche gegangen und hatten uns die Strohkrippe mit dem Jesuskind, dem neu geborenen Heiland, angesehen.
    Von allen rotgedruckten Feiertagen des sentimentalen amerikanischen Kalenders hatte meine Mutter Weihnachten am meisten gehasst. Ich konnte mich noch gut an das Jahr erinnern, in dem ich einen selbstgebastelten Papierengel mit Goldflitter auf den Flügeln aus der Schule nach Hause brachte und sie ihn gleich in den Mülleimer warf. Sie hatte noch nicht mal gewartet, bis ich im Bett lag. Am Heiligen Abend las sie immer Yeats, »Der jüngste Tag«: Welche wüste Bestie … schlampt gegen Bethlehem … Wir tranken Glühwein und warfen Runensteine. Sie wollte nicht kommen, um mich »Herbei, o ihr Gläubigen« und »Süßer die Glocken nie klingen« mit meiner Grundschulklasse singen zu hören. Sie wollte mich noch nicht mal hinfahren.
    Doch nachdem ich Marvel durch etliche Einkaufszentren hinterhergeschlurft war, überall mit Weihnachtsliedern aus der Konserve beschallt worden war und Marvels blinkende Weihnachskerzen-Ohrringe erlebt hatte, konnte ich die Haltung meiner Mutter langsam nachvollziehen.
    Ich saß in der Dunkelheit im Spielhaus und stellte mir vor, dass ich jetzt mit ihr zusammen wäre; dass wir in Lappland wären, in einem bunten Holzhäuschen, wo der Winter neun Monate lang anhält, dass wir Fellstiefel trugen, Rentiermilch tranken und die Sonnenwende feierten. Wir banden Gabeln und Metallpfannen an die Bäume, um böse Geister fern zu halten, tranken Honigmet, nahmen Pilze ein, die wir im Herbst gesammelt hatten, und bekamen Visionen. Das Rentier folgte uns, wenn wir pinkeln wollten, gierig nach dem Salz unserer Körper.
    Im Haus hatte sich Eds Bruder George als Weihnachtsmann verkleidet, er war ziemlich angetrunken. Ich konnte sein Gelächter über die anderen Stimmen hinweg hören. Ed saß neben ihm auf dem Sofa, sogar noch betrunkener, er war allerdings ein schweigsamer Trinker. Justin hatte eine Autorennbahn geschenkt bekommen, die Ed einen ganzen Wochenlohn gekostet hatte, Caitlin ein Barbie-Auto aus Plastik, in dem sie herumfahren konnte. Alles, was ich geschenkt bekommen hatte, kam aus dem 99-Cent-Laden. Eine kleine Taschenlampe als Schlüsselanhänger. Ein Sweatshirt mit einem aufgedruckten Teddybären. Ich trug das Sweatshirt. Marvel hatte darauf bestanden. Ich rauchte meine Tiparillo und schaltete die Taschenlampe ein und aus, immer genau eine Sekunde, bevor die Nase von Rudolph, dem Rentier, auf der Dachbeleuchtung aufblinkte. Wir führten ein heimliches Gespräch, Rudy und ich.
    Ich dachte daran, wie leicht man sich umbringen kann, wenn man betrunken ist. Ein Bad nehmen, einschlafen, ertrinken. Keine Schildkröte käme vorbeigetrieben, um einen zu retten, kein Aufklärungsflugzeug würde einen finden. Ich zog das Messer meiner Mutter hervor und spielte das Messerspiel auf dem Boden des Spielhauses. Ich war betrunken und verletzte mich bei jedem soundsovielten Stich. Ich hielt die Hand hoch und fühlte

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