Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
Vom Netzwerk:
Taktgefühl. Ihr Körper bewegte sich in zehn Richtungen gleichzeitig; alle harmonierten, so geschmeidig wie ein Band. Sie lachte, hielt sich dann aber die Hand vor den Mund. »Du musst die Musik fühlen, Astrid. Schau nicht mich an. Schließ die Augen, und lass dich hineinfallen.«
    Ich schloss die Augen und spürte, wie sie ihre Hände auf meine Hüften legte und mich führte. Jede Hüfte bewegte sich unabhängig von der anderen. Sie ließ mich los, und ich versuchte im Rhythmus zu bleiben, ließ meine Hüften in großen Bögen zu dem komplexen Takt kreisen. Ich hob die Arme über den Kopf und ließ die Wellen der Bewegung durch meinen ganzen Körper gleiten. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, dass wir in Brasilien wären, an einem Strand mit einer palmenbedeckten Bar, und gefährlich nahe mit Männern tanzten, die wir nie wiedersehen würden.
    »Oh, Astrid, du musst unbedingt zum Karneval mitkommen«, sagte Olivia. »Wir erzählen deiner Aufseherin, dass eure Klasse einen Ausflug zur Liberty Bell nach Philadelphia macht, und entführen dich einfach! Drei Tage lang wirst du weder schlafen noch essen, sondern nur tanzen. Ich verspreche dir, dass du dich danach nie wieder wie ein weißes Mädchen bewegen wirst!«
    Als die Lieder ruhiger wurden, legte sie mir den Arm um die Taille und tanzte mit mir. Ihr Parfum roch immer noch frisch wie Pinien, trotz der Hitze und des Schweißes. Ich war inzwischen so groß wie Olivia, und es machte mich verlegen, dass sie mich umfasst hielt; ich trat ihr aus Versehen auf die Füße.
    »Ich führe«, sagte sie. »Du brauchst nur zu folgen.«
    Ich spürte, wie sie mich lenkte, die Hand gegen meinen Rücken gedrückt, die immer noch trocken war, sogar in der größten Hitze.
    »Du wirst so schnell erwachsen«, sagte sie mir leise ins Ohr, während wir tanzten wie Wellen an der Copacabana. »Ich bin so froh, dass ich dich jetzt kennen gelernt habe. In ein oder zwei Jahren wäre es ganz anders gewesen.«
    Ich stellte mir vor, sie wäre ein Mann, der mit mir tanzte, und flüsterte zurück: »Inwiefern anders?«
    »Alles wäre schon bestimmt gewesen«, sagte sie. »Jetzt bist du noch so offen. Du könntest dich in alle möglichen Richtungen entwickeln.« Sie tanzte mit mir in kleinen Kreisen, lehrte meine Füße, sich richtig zu bewegen, und meine Hüften, dem Zeichen der Unendlichkeit zu folgen.
    Die Septemberwinde entfachten auf den trockenen Hügeln von Altadena, Malibu und San Fernando üppige Feuer, die sich durch den Chaparral fraßen und Einfamilienhäuser verschlangen. Der Geruch nach Rauch erinnerte mich immer an meine Mutter, an ein Flachdach unter einem verräterischen Mond. Wie schön sie gewesen war, wie wunderbar verstört! Ich erlebte zum zweiten Mal die Zeit der Feuer ohne sie. Oleanderzeit. Ich hatte gelesen, dass die Juden jetzt ihr Neujahrsfest feierten, und beschloss, meine Zeitrechnung ebenfalls in dieser Jahreszeit beginnen zu lassen.
    Nachts wanderten Kojoten in die Stadt, getrieben vom Durst. Ich sah sie den Mittelstreifen des Van Nuys Boulevard entlanglaufen. Rauch und Asche füllten den Talkessel wie eine graue Badewanne. Selbst in meine Träume drang noch die Asche; ich war das Aschemädchen, den Santa-Ana-Winden geboren, geboren in Kohle und dürres Gras.
    Auf dem Höhepunkt der Feuer, bei vierzig Grad im Schatten, fing die Schule wieder an. Die Welt verbrannte, und ich begann die zehnte Klasse auf der Birmingham High School. Jungen warfen mir im Flur Kusshändchen zu und winkten mit Geldscheinen. Sie hatten gehört, dass ich gewisse Dinge tun würde. Doch ich konnte sie kaum erkennen, sie waren nur Gestalten hinter dem Rauch. Conrad, der dicke Junge aus dem Park, war in meinem Schreibmaschinenkurs. Er steckte mir im Flur Joints zu. Allerdings fragte er mich nicht mehr, ob ich ihm einen blasen würde. Er konnte wohl die Flammen in meinem Haar sehen und wusste, dass meine Lippen ihn versengen würden. Das gefiel mir. Ich fühlte mich wie meine Mutter zur Oleanderzeit . Liebende, die sich jetzt gegenseitig umbringen, werden es auf den Wind schieben .
    Ich schickte meiner Mutter Bilder von Olivia, die Gumboschoten kochte und den riesigen Topf umrührte. Olivia mit ihren rosaroten Handflächen und Füßen, wie sie Samba tanzte, wie sie Auto fuhr, das Grace-Kelly-Tuch um den Kopf gebunden, die Haut leuchtend vor dem weißen Stoff.
    Liebe Astrid,
ich betrachte die Feuer am Horizont und bete, dass sie näher kommen und mich verzehren. Du hast dich in jeder

Weitere Kostenlose Bücher