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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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wollte, bat ich um eine neue Spritze. Es hatte keinen Zweck, den Helden zu spielen. Hier gab es keine Wikinger. An der Decke der Notaufnahme hing ein Poster mit Fischen. Ich wollte unter die Oberfläche des Meeres tauchen, zwischen Korallen und Tangwäldern treiben, das Haar wie Seegras, in stummem Flug auf einem Mantarochen dahingleiten. Komm mit mir, Mutter. Sie liebte es zu schwimmen, ihr Haar wie ein Fächer, eine Darstellerin für ein Meerjungfrauenlied. Sie sangen auf den Felsen und kämmten sich ihr Haar. Mutter … Die Tränen kamen plötzlich aus dem Nirgendwo wie eine Quelle aus dem Felsen. Alles, was ich mir wünschte, war ihre kühle Hand auf meiner Stirn. Was hatte es sonst je gegeben? Wo du warst, war mein Zuhause.
    Zweiunddreißig Stiche später machte Ed seinen Auftritt, graugesichtig, die Baseball-Mütze in der Hand. »Kann sie jetzt endlich gehen? Ich muss morgen früh arbeiten.«
    Die rothaarige Schwester Drew hielt mir die Hand, während sie Ed Turlock erklärte, wie meine Wundnähte mit Wasserstoffperoxid gereinigt werden sollten, und ihn anwies, mich in zwei Tagen wieder vorbeizubringen, um den Heilungsprozess zu kontrollieren, und dann wieder in einer Woche, um die Fäden entfernen zu lassen. Er nickte, hörte aber nicht zu, und während er die Papiere unterschrieb, erklärte er, dass ich nur sein Pflegekind sei, die Krankenhauskosten trage die Stadt.
    Auf dem Rückweg sprachen wir nicht. Ich betrachtete die vorüberziehenden Schilder. Pic N Save, Psychologische Beratung, Anonyme Alkoholiker, Hair Odyssey, Fish World. Wenn ich seine Tochter wäre, hätte er mich gerade begleitet. Doch ich wollte gar nicht seine Tochter sein. Ich war dankbar, dass ich nicht einen einzigen Tropfen seines Blutes in meinen Adern trug. Zärtlich hielt ich die blutige Kaschmirwolle zwischen den Fingern.
    Als wir zu Hause ankamen, wartete Marvel in der Küche auf uns, in ihren schmutzigen blauen Morgenmantel gewickelt, das Haar glühte in »Herbstflamme«. »Was zum Teufel hast du dir eigentlich gedacht?« Sie fuchtelte mit ihren plumpen Händen in der Luft herum. Hätte ich die Verbände nicht getragen, hätte sie mir wahrscheinlich eine Ohrfeige gegeben. »Dich mitten in der Nacht in der Gegend herumzutreiben! Was hast du denn erwartet?«
    Ich ging an ihr vorbei und nahm die erste Vicodin-Tablette, spülte sie mit Leitungswasser herunter. Ohne ein Wort zu sagen, ging ich in mein Zimmer, schloss die Tür und legte mich auf mein Bett. Auf eine perverse Art war ich froh über die Nähte; froh, dass man etwas sehen würde, dass sie Narben hinterlassen würden. Was bringt es schon, nur innerlich verletzt zu sein? Ich dachte an das Mädchen mit den Narbentätowierungen in dem Kinderheim in Crenshaw. Sie hatte Recht: Man sollte es verdammt noch mal sehen.

14

    Narben überzogen mein Kinn und meine Wangen, meine Arme und Beine. Auf der Birmingham High School starrten mich immer noch alle an, aber anders als vorher; jetzt sahen sie nicht mehr die Baby-Nutte, sondern eine Missgeburt. So gefiel es mir besser. Schönheit war trügerisch. Lieber zeigte ich meine Schmerzen, meine Hässlichkeit. Marvel hätte mir am liebsten die Striemen mit Puder abgedeckt, doch das wollte ich nicht. Ich war zerrissen und wieder zusammengeflickt worden, ich lag offen da wie eine Grube im Tagebau, und sie würden eben hinsehen müssen. Ich hoffte, dass ich sie anekelte. Ich hoffte, dass sie mich in ihren Albträumen sahen.
    Olivia war immer noch weg, die Corvette stand abgedeckt und stumm in der Einfahrt; um acht Uhr morgens schalteten sich für genau sieben Minuten die Rasensprenger ein, um sechs Uhr abends gingen per Zeitschaltautomatik die Lichter an. Auf ihrer Türschwelle stapelten sich die Zeitschriften. Ich ließ sie da liegen. Ich hoffte, der Regen würde auf sie herunterprasseln, auf ihre Sechzehn-Dollar-Vogue.
    Wie leichtgläubig ich doch war! Wie eine Klette hängte ich mich an alles, an jeden, der mir auch nur das kleinste bisschen Aufmerksamkeit entgegenbrachte. Ich schwor mir, mich von ihr fern zu halten, wenn sie wieder zurückkam. Ich würde mich an das Alleinsein gewöhnen; das war immer noch besser als die Enttäuschung, wenn man entdeckte, dass man sowieso allein war. Einsamkeit war das Los der Menschheit; damit musste ich mich abfinden.
    Ich dachte an sie, während ich mit Conrad und seinen Freunden unter der Sportplatztribüne saß und kiffte. Jungen waren einfach zufrieden zu stellen, darin hatte sie Recht gehabt. Ich

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