Weisser Oleander
Hinsicht als so zurückgeblieben erwiesen, wie deine Schule dich seinerzeit einmal eingeschätzt hat. Du würdest dich an jeden hängen, der dir auch nur das kleinste bisschen Aufmerksamkeit entgegenbringt, oder? Am liebsten würde ich mich von dir lossagen. Erinnere mich nicht daran, dass es zwei Jahre her ist, seit ich zum letzten Mal richtig gelebt habe. Glaubst du denn, ich könnte vergessen, wie lange es her ist? Wie viele Tage, Stunden, Minuten habe ich hier gesessen, die Wände der Zelle angestarrt und Frauen zuhören müssen, deren ganzer Ausdrucksschatz aus ungefähr fünfundzwanzig Wörtern besteht! Und Du schickst mir Bilder von deinen Mulholland-Touren, deiner tollen neuen Freundin. Erspare mir deine Begeisterungsstürme. Willst du mich in den Wahnsinn treiben?
Bei Anruf M.
Im Oktober verfärbten sich die Blätter rot und fielen, schwarze Pflaumen, gezackte Ahornblätter und Amberbäume. Ich war auf dem Heimweg von der Schule und überlegte mir gerade, wie ich Olivia von dem Lehrer erzählen würde, der mich heute aufgefordert hatte, nach dem Unterricht zu ihm zu kommen, weil er mit mir über meine »häusliche Situation« sprechen wolle. Ich stellte mir vor, wie sie lachen würde, wenn ich seinen traurigen Hundeblick nachmachte. Gerade fragte ich mich, was für ein Typ Mann er wohl ist, als ich etwas sah, das mir allen Wind aus den Segeln nahm; sie flatterten und hingen dann mitten auf dem Ozean schlaff herunter. Olivias Auto, versteckt unter seiner Baumwollplane.
Ich hatte sie gerade erst getroffen, und sie hatte nichts davon erzählt, dass sie nicht da sein würde. Wie konnte sie so einfach verschwinden, ohne mir etwas zu sagen? Vielleicht war es ein Notfall, dachte ich mir, doch dann hätte sie irgendwo eine Nachricht für mich hinterlassen können, ich hätte sie schon gefunden. Ich wartete zwei Tage ab, drei, doch immer noch sammelten sich die welken Blätter in ihrem Garten, trieben die Auffahrt entlang und lagen auf ihrer Autoabdeckung wie japanische Papierfächer. Trübselig und zugekifft saß ich in meinem Zimmer in Marvels Haus und zeichnete die Vorhänge. Ihre Streifen waren das Einzige, was mich im Augenblick interessierte, das Einzige, was noch Sinn ergab. Ich schrieb meiner Mutter nicht; sie hätte sich doch nur an meinem Verlust geweidet, und das hätte ich nicht ertragen. Sie schrieb mir und berichtete, dass sie mit einem Professor für Altphilologie korrespondiere, dessen Vorname aus drei Initialen bestand. Er schicke ihr Originalübersetzungen einiger der obszöneren Textstellen aus dem Ovid und Aristophanes. Sie meinte, ihr gefalle der Kontrast zu den Machwerken, die Dan »the Man« Wylie für sie verfasste. Außerdem führe sie einen lebhaften Briefwechsel mit einem Kleinverleger in North Carolina sowie mit Hanna Grün, einer bekannten Kölner Feministin, die von ihrer bedauerlichen Lage erfahren habe. Sie schrieb mir von ihrer neuen Zellengenossin. Die letzte sei sie endlich losgeworden; sie sei auf die Krankenabteilung verlegt worden, weil sie ständig etwas über Hexenkunst brabbelte. Natürlich hatte nichts davon irgendetwas mit mir zu tun – bis auf die Sache mit den Zähnen:
Liebe Astrid,
durch einen unglücklichen Zwischenfall auf Barneburg B habe ich mir einen losen Zahn zugezogen. Ich kann hier unmöglich einen Zahn verlieren – die Vorstellung eines Gefängniszahnarztes ist einfach zu grotesk. Ich sehe einen hageren Mann vor mir, erste Anzeichen von Parkinson-Schüttellähmung, das rote Gesicht blühend vor Alkoholismus und jahrelanger Vernachlässigung der ärztlichen Sorgfaltspflicht. Oder eine vierschrötige Frau, ein echtes Schlachterweib, die ihre Eingriffe ohne Betäubung durchführt und sich an den Schreien ihres Opfers ergötzt. Astrid, achte bloß gut auf Deine Zähne. Niemand wird dich jetzt zu einem vernünftigen Zahnarzt bringen. Wenn etwas schief geht, wird man sie in deinem Mund verfaulen lassen, und du kannst dir mit vierundzwanzig das ganze Gebiss ziehen lassen. Ich reinige mir täglich die Zwischenräume mit Zahnseide, bürste mir die Zähne mit Salz und massiere das Zahnfleisch. Versuche, Vitamin C zu bekommen; wenn sie dir keines geben, iss Orangen.
Mammy Yokum.
Wenigstens kann sie nicht verschwinden, dachte ich, während ich den Brief wieder in seinen Umschlag schob. Aber sie konnte mich auch nicht sehen. Ich brauchte Olivia; sie sollte zurückkommen und mir neue Nahrung geben.
Ein Ring aus Wasserdunst umgab den Mond, Rabenauge im Nebel. Es war
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