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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Überall waren obdachlose Kinder, sie kauerten in Hauseingängen, bettelten um Dope, Geld, eine Zigarette oder einen Kuss. Wenn ich in ihre Gesichter sah, blickte mir mein eigenes entgegen. Auf der Las Palmas Avenue verfolgte mich ein Mädchen, das den Kopf halb kahlrasiert hatte, und nannte mich Wendy. »Lauf nicht weg vor mir, Wendy«, schrie es mir hinterher. Ich klappte mein Messer in der Jackentasche auf, und als das Mädchen mich von hinten an der Jacke packte, drehte ich mich um und hielt es ihm unter das Kinn.
    »Ich bin nicht Wendy«, sagte ich.
    Sein Gesicht war tränenverschmiert. »Wendy«, flüsterte es.
    An einem anderen Tag ertappte ich mich dabei, wie ich statt nach Osten in Richtung Westen ging, dann nach Norden, im Zickzack durch nasse Seitenstraßen, und dabei den harzigen Duft von Eukalyptus, Pittosporum und übrig gebliebenen Orangen an den Bäumen aufsog. In meinen Schuhen gluckste das Wasser, mein Gesicht brannte fiebrig. Mir war zwar irgendwie klar, dass ich aus dem Regen gehen und mir die Füße trocknen sollte, um eine Lungenentzündung zu verhindern, doch ich verspürte einen seltsamen Drang, weiter in Richtung Nordwesten zu gehen. Ich pflückte eine Orange von einem Baum; sie war so sauer wie Essig, doch ich brauchte das Vitamin C dringend.
    Erst als ich auf dem Hollywood Boulevard herauskam, wurde mir klar, wohin ich eigentlich gegangen war. Ich stand vor unserem alten Apartmenthaus, schmutzig weiß und fleckig vom Regen, Wasser tropfte aus den Bananenstauden, den Palmen und den glänzenden Oleanderbüschen. Hier war unser Flugzeug abgestürzt. Ich sah unsere Fenster; die, die Barry zerbrochen hatte, Michaels Fenster. In seinem Apartment brannte Licht.
    Einen Moment lang erwachte mein Herz zu neuem Leben, schlug hoffnungsvoll, während ich die Namen neben den Klingeln las und mir vorstellte, wie er die Tür öffnete, seine Überraschung, er würde nach Johnny Walker riechen, die Wärme seines Apartments, der Putz, der von der Decke bröckelte, die Stapel mit Variety-Magazinen, im Fernsehen lief gerade ein toller Film – wie willkommen ich sein würde. Masaoka, Benoit/Rosnik, P. Henderson. Aber kein McMillan, kein Magnussen.
    Durch meine Enttäuschung ging mir auf, was ich wirklich erwartet hatte. Dass wir noch hier wohnten. Dass ich hineingehen könnte und meine Mutter vorfinden würde, die gerade ein Gedicht schrieb, dass ich mich in ihre Decke einwickeln könnte und dies alles nur ein Traum wäre, von dem ich ihr erzählen konnte. Ich war nicht wirklich ein Mädchen, das nur einen Schritt von der Obdachlosigkeit entfernt lebte, das die Reste von Amelias Teller aß. In diesem Apartment hatte meine Mutter Barry Kolker nie kennen gelernt, und Gefängnis war etwas, von dem sie mal in der Zeitung gelesen hatte. Ich würde ihr die nach Veilchen duftenden Haare bürsten und in den heißen Nächten wieder mit ihr im Pool schwimmen. Wir würden den Sternen neue Namen geben.
    Doch wir waren nicht mehr da. Michael war nicht mehr da. Die Tür war verschlossen, im Schwimmbecken wuchsen grüne Algen, und die Wasseroberfläche war picklig vom Regen.
    Ich lehnte an der Mauer des Pausenhofs der Hollywood High School, hatte Fieber und bemühte mich, den anderen Kindern nicht beim Essen zuzusehen. Ein Mädchen schaute in ihre Butterbrottüte, zog ein Gesicht und warf das beleidigende Mahl in die Mülltonne. Ich war schockiert. Natürlich würde etwas zu essen auf es warten, wenn es nach Hause kam. Ich hätte ihm am liebsten eine geknallt. Dann fiel mir »Die Kunst des Überlebens« ein. Wenn man mit dem Flugzeug abgestürzt ist, trinkt man Kühlwasser; man erschlägt seine Schlittenhunde. Dies war nicht der rechte Augenblick für Zimperlichkeiten.
    Ich ging zur Mülltonne und schaute hinein. Ich konnte seine braune Papiertüte oben auf dem Abfallhaufen liegen sehen. Es stank, die Mülltonnen wurden nie gereinigt, doch ich konnte es tun. Ich tat so, als hätte ich etwas in die Mülltonne fallen lassen, und holte die Butterbrottüte heraus. Sie enthielt ein Thunfisch-Sandwich mit Gurken-Relish. Die Kruste des gebutterten Weißbrots war weggeschnitten worden. In der Tüte waren Möhrenschnitze und sogar eine Packung Apfelsaft, angereichert mit Vitamin C.
    Verglichen mit dem Abschlachten seiner Schlittenhunde war es einfach. Ich lernte, gut aufzupassen, wenn die Schulglocke läutete, denn das war der Augenblick, wenn alle ihre Butterbrote wegwarfen und in die Klassenräume zurückeilten. Zur fünften Stunde

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