Weisser Oleander
Pfirsichtee. Ich nahm einen starken Kaffee mit Sahne und Zucker und das größte Stück Kuchen, das sie im Angebot hatten, einen Blaubeer-Scone, der wie ein Herz geformt war. Wir saßen an einem Tisch, von dem aus wir auf die Straße blicken konnten, die begräbnisartigen Regenschirme sahen und das weiche Zischen der Autos in den Pfützen hörten. Sie schlug meine Akte auf der klebrigen Tischplatte auf. Ich bemühte mich, langsam zu essen, den buttrigen Biskuitteig und die ganzen Blaubeeren zu genießen, doch ich war zu hungrig. Ich hatte die Hälfte verdrückt, ehe sie zum ersten Mal aufblickte.
»Ms. Cardoza hat empfohlen, dich nicht zu verlegen«, sagte meine neue Sozialarbeiterin. »Sie sagt, deine Unterbringung sei angemessen. Sie meint, deine Einstellung ließe zu wünschen übrig.«
Ich konnte mir richtig vorstellen, wie sie es aufschrieb, Ms. Cardoza mit ihrer lehmigen Haut, ihrem Make-up, das sie dick wie eine Kuchenglasur auftrug. Sie hatte mich bei keinem ihrer Besuche auch nur ein einziges Mal ausgeführt, hatte die ganze Besuchszeit mit Amelia verbracht und sich mit ihr auf Spanisch bei Tellern mit Butterplätzchen und Yerbabuena - Tee in passenden geblümten Tassen und Untertassen unterhalten. Sie war ja so beeindruckt von Amelia und dem großen Haus, dem glänzenden Silber. All diese Umbauten! Sie fragte sich nie, woher das Geld dafür eigentlich kam. Sechs Mädchen brachten eine ganze Menge Geld für Umbauten ein, ja sogar für Antiquitäten, besonders, wenn sie nichts zu essen bekamen.
Ich sah zu einem schwülstig-schweren Bild einer Frau empor, die mit gespreizten Beinen auf einem Bett lag, aus ihrer Vagina krochen Schlangen hervor. Joan Peeler reckte den Hals, um zu sehen, was ich da betrachtete.
»Hat sie auch erzählt, wieso ich um eine Verlegung gebeten habe?« Ich leckte mir den Puderzucker von den Fingern.
»Sie sagte, dass du dich über das Essen beklagt hättest. Und darüber, dass Mrs. Ramos die Benutzung des Telefons einschränkt. Sie fand dich intelligent, aber verwöhnt.«
Ich musste laut lachen und zog mir den Pullover hoch, um ihr meine Rippen zu zeigen. Die Männer auf der anderen Seite des Gangs blickten ebenfalls herüber, ein Journalist mit einem Laptop und ein Student, der sich Notizen auf einem Schreibblock machte. Wollten wahrscheinlich sehen, ob ich den Pullover noch höher schieben würde. Nicht, dass es sich gelohnt hätte, ich hatte obenrum sowieso nicht mehr viel zu bieten. »Sie lässt uns verhungern«, sagte ich und zog den Pullover wieder runter.
Joan Peeler runzelte die Stirn und goss Tee durch ein geflochtenes Teesieb in eine angeschlagene Tasse. »Warum beschweren sich die anderen Mädchen nicht?«
»Sie haben Angst vor einer noch schlimmeren Unterbringung. Sie sagt, sie würde uns zu Mac schicken, wenn wir uns beschweren.«
Joan legte ihr Teesieb ab. »Wenn das, was du da sagst, stimmt und wir es beweisen können, dann kann sie ihre Erlaubnis verlieren.«
Ich malte mir aus, wie es tatsächlich ablaufen würde: Joan begann ihre Untersuchung, wurde dann ins San Gabriel Valley versetzt, und ich verlor meine letzte Chance, eine junge Sozialarbeiterin, die sich noch für ihre Schützlinge engagierte.
»Das kann lange dauern. Ich muss sofort da raus.«
»Aber was ist mit den anderen Kindern? Ist es dir denn ganz egal, was mit ihnen passiert?« Joan Peeler riss die mit dunklem Lidstrich umrahmten Augen enttäuscht auf.
Ich dachte an die anderen Mädchen, die stille Micaela, Lina, die kleine Kiki Torrez. Sie waren genauso hungrig wie ich. Und die Mädchen, die nach uns kamen, Mädchen, die das Wort »Pflegekind« bisher noch nicht mal gehört hatten, was war mit ihnen? Ich hätte Amelia gern den Laden dichtgemacht. Doch es fiel mir schwer, mir diese Mädchen vorzustellen. Ich wusste nur, dass ich verhungerte und da raus musste. Ich fühlte mich schrecklich, weil ich nur meine eigene Haut retten wollte und mir der Rest egal war. Das entsprach nicht dem Bild, das ich von mir selbst hatte. Doch im Grunde wusste ich, dass die anderen Mädchen genauso handeln würden. Keines würde sich um mich scheren, wenn es die Chance hätte, da herauszukommen. Ich würde bloß den Luftzug spüren, während sie sich aus dem Staube machten. »Ich bekomme meine Periode nicht mehr«, sagte ich. »Ich esse aus Mülltonnen. Bitten Sie mich nicht, noch länger zu warten!« Reverend Thomas hatte immer gesagt, dass die Sünder in der Hölle gleichgültig gegenüber den Leiden der anderen
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