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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Magen krallte sich zusammen wie eine Katze im Sack. Tagsüber wollte ich nur noch schlafen, doch nachts kehrten die Bilder des Tages zurück wie eine Dia-Show. Stank ich wirklich? War ich Abfall, war ich widerlich?
    Ich hörte, wie Silvana hereinkam und sich auf ihrem Bett niederließ. »Dachtest wohl, du wärst was Besonderes, was? Kamst dir wohl superschlau vor? Da siehst du es, du bist auch nicht besser dran als wir. Halt lieber die Klappe, oder du endest noch bei Mac.« Sie warf mir ein Brötchen zu.
    Ich verschlang es in zwei Bissen. Es schmeckte so gut, dass ich beinahe weinte. »Was ist ›Mac‹?«, fragte ich.
    Ich hörte ihr genervtes Seufzen. »Mac. Mac Larens Kinderheim. Da schicken sie dich hin, wenn du nirgendwo anders mehr hin kannst. Du würdest da keinen Tag überstehen! Dich würden sie da zum Frühstück vernaschen, weißes Mädchen.«
    »Wenigstens bekommen sie Frühstück«, sagte ich.
    Silvana kicherte im Dunkeln.
    Draußen fuhr ein Auto vorbei, seine Scheinwerfer malten bewegliche Schatten auf die Zimmerdecke. »Bist du schon mal da gewesen?«, fragte ich.
    »Nidia«, sagte sie. »Sogar sie hat gesagt, dass es da hart war, und sie ist selbst eine loca . Also halt lieber die Klappe, und nimm es hin wie wir andern auch. Denk dran: achtzehn und tschüs!«
    Doch ich war erst fünfzehn.
    Jetzt war Kiki Torrez ihr Liebling, diejenige, die zu Amelias Rechten saß und Brosamen von ihrem Teller aß wie ein Hündchen. Ich war neidisch und angewidert zugleich. Jetzt wendete Kiki die Seiten der argentinischen Alben um und aß Butterplätzchen, während ich Amelias dreckige Unterwäsche im Waschbecken wusch, ihre Badewanne scheuerte, ihre Kleider und ihre spitzenverzierte Bettwäsche bügelte – und kam mir womöglich in den Sinn, irgendetwas aus Trotz zu beschädigen, dann gab es kein Abendessen.
    Sie spielte uns gegeneinander aus. Eines Abends stahl ich eine Dose Süßkartoffeln, und sie nötigte Kiki, mich zu verpetzen. Ich nahm noch weiter ab, meine Rippen ragten hervor wie Bootsspanten. Allmählich konnte ich nachvollziehen, wie ein Mensch einen anderen umbringen konnte.
    »Du solltest dir auch Mädchen ins Haus holen«, hörte ich sie einmal zu ihrer Freundin Constanza sagen, während ich gerade das Silber putzte. »Es ist leichtverdientes Geld. Du kannst dann endlich renovieren. Ich werde als Nächstes das Badezimmer umbauen.«
    Ich polierte die kniffligen Windungen des Gabelgriffs mit einer Zahnbürste. Ich hatte bereits gestern das Besteck poliert, doch sie beklagte sich, dass die Ritzen noch angelaufen waren, und ließ es mich noch mal machen. Ich hätte die Gabel am liebsten in ihren Unterleib gerammt. Ich hätte ihr bei lebendigem Leibe die Haut abziehen können.
    Schließlich, im dunklen Monat März, nach wochenlangen, beinahe täglichen Anrufen, gab Ms. Cardoza meinen Fall ab, und ich bekam eine neue Sozialarbeiterin, einen rettenden Engel namens Joan Peeler. Sie war jung, trug Schwarz und hatte lange, hennarot gefärbte Haare. Sie trug vier Silberringe an jeder Hand. Sie sah eher aus wie eine Dichterin als wie eine städtische Angestellte. Als es Zeit für ihren Besuch war, fragte ich sie, ob sie irgendwelche Cafés kannte.
    Sie führte mich in eines auf der Vermont Avenue. Wir duckten uns an den Tischen unter dem Vordach vorbei, an denen die zitternden Raucher im Regen saßen und versuchten, trocken zu bleiben, und betraten das feuchtwarme Café.
    Sofort wurde ich von Erinnerungen überwältigt: die schwarzen Wände und der Geruch nach irgendeinem Hippie-Eintopf, der Tisch neben der Registrierkasse, auf dem sich Handzettel, Flugblätter und Gratiszeitungen häuften. Selbst die lachhaft hässlichen Gemälde in dicken Pigmentfarben kamen mir bekannt vor – grüne Frauen mit länglichen Brüsten und Vampirzähnen, Männer mit barocken Erektionen. Und ich erinnerte mich an die Stimme meiner Mutter, daran, wie irritiert sie gewesen war, als das Röhren der Cappuccino-Maschine ihre Lesung unterbrochen hatte, an ihre Bücher, die sich auf dem Tisch stapelten, an dem ich zeichnete und das Geld entgegennahm, wenn jemand eins kaufte.
    Ich wollte sie wiederhaben. Ich war überwältigt von dem Bedürfnis, ihre tiefe, ausdrucksvolle Stimme zu hören. Ich wollte hören, wie sie etwas Witziges und Grausames über die Kunstwerke sagte oder eine Geschichte über einen der anderen Dichter erzählte. Ich wollte fühlen, wie ihre Hand über mein Haar strich, während sie sprach.
    Joan Peeler bestellte

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