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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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Baseball-Jacke überzog. »Es steht im Kühlschrank. Wir haben es für dich aufgehoben.«
    Lina und Kiki Torrez lachten.
    Ich ging in die Küche zurück. Der Kühlschrank war mit einem Vorhängeschloss gesichert.
    Als ich wieder in den Flur zurückkam, standen sie immer noch da. »Hat’s geschmeckt?«, fragte Nidia. Ihre bernsteinfarbenen Augen unter der sichelförmigen Stirnnarbe glitzerten wie die eines Habichts.
    »Wo ist der Schlüssel?«, fragte ich.
    Kiki Torrez, ein zierliches Mädchen mit langen, glänzenden Haaren, platzte laut heraus. »Bei unserer Herrin der Schlüssel. Bei deiner Freundin, der edlen Dame.«
    »Sie ist jetzt arbeiten«, sagte Lina, eine winzige Mittelamerikanerin mit einem breiten Maya-Gesicht. »Sie wird gegen sechs wieder zu Hause sein.«
    » Adiós , Blondie«, sagte Nidia und hielt den anderen die Tür zum Gehen offen.
    Es dauerte nicht lange, bis ich kapiert hatte, weshalb die Mädchen Amelia »Cruella de Vil« nannten. In dem wunderschönen Holzhaus ließ man uns die ganze Zeit hungern. An den Wochenenden, wenn Amelia zu Hause war, bekamen wir etwas zu essen, doch während der Woche gab es nur Abendessen. Sie hielt den Kühlschrank stets verschlossen, Telefon und Fernseher waren sicher in ihrem Zimmer untergebracht. Man musste sie um Erlaubnis bitten, wenn man das Telefon benutzen wollte. Ihr Sohn Cesar wohnte in einem Zimmer über der Garage. Er hatte AIDS und rauchte den ganzen Tag über Pot. Er hatte Mitleid mit uns und wusste, wie hungrig wir waren; da er aber andererseits mietfrei wohnte, hatte er nicht das Gefühl, viel für uns tun zu können. Ich saß mit stechenden Kopfschmerzen im Gesundheitskunde-Unterricht der zehnten Klasse. Ich hätte nicht sagen können, ob wir gerade Geschlechtskrankheiten oder Tuberkulose durchnahmen. Worte brummten um mich herum wie Fliegen, die nicht landen wollten; Wörter krochen über die Seiten meines Buches wie Ameisenkolonnen. Das Einzige, woran ich denken konnte, war, dass ich an diesem Abend Käsemakkaroni kochen würde, dass ich so viel wie möglich vom Käse verschlingen würde, ohne mich erwischen zu lassen.
    Während ich die helle Soße für die Käsemakkaroni anrührte, versteckte ich ein Stück Margarine hinter einem Stapel Teller. Die Mädchen hatten mir von vornherein gesagt, dass diejenige, die Küchendienst hatte, immer Essen für alle stahl und dass sie mir das Leben zur Hölle machen würden, wenn ich mich nicht daran beteiligte. Nach dem Abwaschen trug ich die Margarine unter meinem T-Shirt versteckt in mein Zimmer hinauf. Kaum hörten wir, dass Amelia in ihrem Schlafzimmer mit einer Freundin telefonierte, kamen alle in unser Zimmer, und wir vertilgten das ganze Stück. Ich teilte die Margarine mit meinem Taschenmesser in einzelne Würfel. Wir aßen sie langsam, ließen sie im Mund zergehen wie Lutschbonbons. Ich spürte, wie die Kalorien unverdünnt in meine Blutbahn krochen und mich high machten.
    »Achtzehn und tschüs!«, sagte Nidia, während sie sich die Finger ableckte. »Wenn ich die alte Hexe nicht vorher schon umbringe.«
    Doch Amelia mochte mich. Sie erlaubte mir, neben ihr zu sitzen und ihren Teller leer zu essen, wenn sie genug gehabt hatte. Wenn ich richtig Glück hatte, lud sie mich nach dem Abendessen ins Wohnzimmer ein, um mit ihr über Inneneinrichtungen zu reden, ihre Stoffproben und Tapetenmuster zu betrachten. Ich nickte zu ihren endlosen Anekdoten über das aristokratische Argentinien, trank Tee und stopfte wortlos Butterplätzchen in mich hinein. Die Mädchen nahmen es mir übel, dass ich mit dem Feind kollaborierte, und ich konnte es ihnen nicht mal verdenken. Sie sprachen nicht mit mir, weder in der Schule noch während der langen hungrigen Nachmittage, die wir ausgesperrt auf der Straße zubrachten, bis Amelia nach Hause kam. Keine von uns hatte einen Schlüssel, wir könnten ja etwas stehlen oder in ihr Zimmer einbrechen und das Telefon benutzen.
    Was soll ich über diese Zeit meines Lebens berichten? Hunger bestimmte jeden Augenblick, Hunger und sein schweigender Zwilling, das ständige Bedürfnis zu schlafen. Die Schule zog wie im Traum an mir vorbei. Ich konnte nicht denken. Die Logik verließ mich, und das Gedächtnis sickerte davon wie Motorenöl. Der Magen tat mir weh, meine Periode blieb aus. Ich schwebte über die Bürgersteige, ich war Rauch. Die Regenfälle setzten ein, und ich war krank und wusste nicht, wohin ich nach der Schule gehen sollte.
    Ich trieb durch die Straßen Hollywoods.

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