Weisser Oleander
zu lassen. Gerade eben war ich noch bei ihr gewesen – und plötzlich nicht mehr. Ich würde keinen von ihnen je wieder sehen, würde nicht mehr die Möglichkeit haben, mich von Olivia zu verabschieden.
Die Sozialarbeiterin, Ms. Cardoza, beschimpfte mich den ganzen Weg lang, während wir über den Ventura Freeway in die Stadt fuhren. »Mrs. Turlock hat mir alles erzählt. Dass du Drogen genommen und dich rumgetrieben hast. Und das mit kleinen Kindern im Haus! Ich bringe dich jetzt wohin, wo du lernen wirst, dich ordentlich zu benehmen!« Sie war eine hässliche junge Frau mit breitem Gesicht, grobem Teint und einer entschlossen zusammengepressten Kieferpartie. Ich machte mir nicht die Mühe, mit ihr zu diskutieren. Ich würde nie wieder mit irgendjemandem sprechen.
Ich dachte darüber nach, welche Lügen Marvel wohl den Kindern erzählen würde, um zu erklären, warum ich nicht mehr nach Hause kam. Dass ich gestorben sei – oder davongelaufen. Aber nein, das passte nicht zu Marvel, der musterhaften Glückwunschkarten-Frau, die sich das Haar hinter verschlossenen Türen färbte. Sie würde sich etwas völlig anderes ausdenken, etwas, was man guten Gewissens auf einem Zierteller abbilden konnte. Dass ich zu meiner Großmutter auf eine Farm gezogen sei, wo wir Ponys hielten und den ganzen Tag lang Eiscreme aßen.
Obwohl es wehtat, musste ich mir eingestehen, dass Olivia wahrscheinlich erleichtert war. Sie würde mich ein bisschen vermissen, doch es war nicht ihre Art, irgendjemanden besonders zu vermissen. Zu viele goldene Abzeichen klopften an ihre Tür. Sie würde eher Pullovern huldigen. Ich verschränkte die Arme um meine Taille und sackte gegen die Tür. Wenn ich mehr Energie gehabt hätte, hätte ich die Autotür geöffnet und mich unter den Tieflader fallen lassen, der neben uns fuhr.
Mein neues Heim war in Hollywood, ein großes Holzhaus im Craftsman-Stil mit tiefer überdachter Veranda, viel zu schön für die Unterbringung eines Pflegekindes. Ich fragte mich, was dahinter stecken mochte. Ms. Cardoza war ganz aufgeregt, sie öffnete und schloss in einem fort ihre Handtasche. Ein Latino-Mädchen mit einem langen Zopf ließ uns herein und musterte mich zurückhaltend. Im Haus war es dunkel, vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge. Die Wände waren bis auf halbe Höhe mit glänzenden Holzpaneelen bedeckt, die nach Zitronenöl dufteten.
Einen Augenblick später erschien die Pflegemutter, chic gekleidet, sehr aufrecht, eine wirkungsvolle helle Strähne in ihrem dunklen Haar. Sie schüttelte uns die Hände, und Ms. Cardozas Augen glänzten, während sie Amelias maßgeschneidertes Kostüm und die hohen Absätze auf sich wirken ließ. »¿Qué pasa con su cara?«, fragte die Pflegemutter. Was mit meinem Gesicht passiert sei. Die Sozialarbeiterin zuckte mit den Schultern.
Amelia lud uns ein, sich in ihr Wohnzimmer zu setzen. Es war geschmackvoll eingerichtet, geschnitztes Holz und Stühle mit Klauenfüßen, weißer Damast und Petit-point-Stickereien. Sie reichte uns Tee in einem silbernen Service und Butterplätzchen auf geblümten Porzellantellern. Ich fuhr alles auf, was ich bei Olivia gelernt hatte, und zeigte ihr, wie vornehm ich Tasse und Untertasse halten und den Löffel vor dem Herunterfallen bewahren konnte. Sie unterhielten sich auf Spanisch, während ich nach draußen blickte und die Deodarazeder betrachtete, die das Erkerfenster einrahmte. Es war ruhig, kein Fernseher lief. Ich konnte die kleine Uhr auf dem Kaminsims ticken hören.
»Es ist schön, no? Kein Schlafsaal«, sagte Amelia Ramos mit einem Lächeln. Sie saß auf der Stuhlkante und kreuzte die Beine an den Knöcheln. »Dies ist mein Zuhause, und ich hoffe, dass du gern an unserem Leben teilnehmen wirst.«
Alle paar Minuten ging eines der Mädchen vorbei und warf einen unergründlichen Blick durch die Wohnzimmertür, während Amelia die Papiere unterschrieb und mit ihrem leicht spanisch gefärbten Akzent die Spielregeln erklärte: Jedes Mädchen kochte an einem Abend der Woche und spülte danach das schmutzige Geschirr. Ich würde mein Bett selbst machen und jeden zweiten Tag duschen. Mit der Wäsche und anderen Haushaltstätigkeiten wechselten sich die Mädchen ab. Sie sei Innenausstatterin, erklärte sie mir. Es sei daher wichtig, dass ihre Mädchen selbst auf sich aufpassten. Ich nickte jedes Mal, wenn sie eine Pause einlegte, und fragte mich, warum sie sich überhaupt Mädchen ins Haus holte. Vielleicht war ihr das Haus allein zu
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