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Weisser Oleander

Weisser Oleander

Titel: Weisser Oleander Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janet Fitch
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kam ich regelmäßig zu spät. Aber wenigstens zitterten meine Hände nicht mehr.
    Eines Tages wurde ich dann auf frischer Tat ertappt. Ein Mädchen machte ihre Freundin auf mich aufmerksam: »Schau dir das eklige Mädchen da an. Die isst aus dem Mülleimer!« Und alle drehten sich um und starrten mich an. Ich konnte mich mit ihren Augen sehen: mein vernarbtes Gesicht, wie ich mich gierig mit den Fingern über einen weggeworfenen Joghurt hermachte. Am liebsten wäre ich nicht mehr in die Schule gegangen, doch ich wusste nicht, wo ich sonst hätte essen sollen.
    Ich fand eine Bibliothek, in der ich die Nachmittage sicher verbringen konnte, indem ich mir Bilder in Kunstbüchern ansah und malte. Lesen konnte ich nicht mehr; die Wörter wollten einfach nicht stillstehen. Sie trieben die Seite hinunter wie Rosen auf einer Tapete. Ich zeichnete Sambatänzer auf liniiertes Notizblockpapier, malte Michelangelos muskelbepackte Heilige und Leonardos weise blickende Madonnen ab. Ich zeichnete ein Selbstbildnis, wie ich aus der Mülltonne aß, heimlich, mit beiden Händen wie ein Eichhörnchen, und schickte es meiner Mutter. Daraufhin erhielt ich einen Brief von ihrer Zellengenossin.
    Libe Asrid,
du kenns mich nich, ich binn mit deiner Mama in eine Zelle. Deine Brive machen sie so traurich. Schik doch mal frölichere sachen, das du lauter einser machs, oder Ballköhnigin wirrst. Sie is hier lebenslenglich. Warum machs dus noch schwehrer für sie?
    deine Fräundin
Lydia Guzman
    Warum ich es ihr noch schwerer machte, Lydia? Weil sie schuld daran war, dass ich jetzt hier war. Ich würde ihr nichts ersparen.
    Die Antwort meiner Mutter war pragmatischer. Sie befahl mir, jeden Tag beim Jugendamt anzurufen und ihnen so lange die Hölle heiß zu machen, bis sie mich woanders unterbringen würden. Ihre Schrift war groß, dunkel und emphatisch. Ich konnte ihre Wut spüren, ich wärmte mich daran. Ich konnte ihre Stärke, ihr Feuer jetzt gebrauchen. »Lass nicht zu, dass sie Dich vergessen«, forderte sie mich auf.
    Doch hier ging es gar nicht darum, vergessen zu werden. Es ging darum, dass ich ein Ordner in einem Aktenschrank war, dessen Tür sie verschlossen hatten. Ich war eine Leiche mit einem Namensschild am Zeh.
    Da ich kein Geld hatte, ging ich auf dem Parkplatz des Spirituosenladens und vor dem Supermarkt betteln, bat Männer um Wechselgeld, um beim Jugendamt anrufen zu können. Die Männer hatten immer Mitleid mit mir. Ein paarmal hätte ich gut einen Freier machen können. Es waren nette Männer, die gut rochen; Büroangestellte, die so aussahen, als ob sie einen Fünfziger springen ließen. Doch ich wollte gar nicht erst damit anfangen. Ich wusste, wie es ausgehen würde. Ich würde mir einen Haufen Essen kaufen, und danach wäre ich wieder hungrig und außerdem eine Nutte. Wenn man glaubt, dass es eigentlich ganz einfach ist, vergisst man bloß, was man dabei draufzahlt.
    Amelia kam dahinter, dass ich mich um eine neue Pflegestelle bemüht hatte. Ich kauerte im Wohnzimmer auf dem unbequemen Sofa mit den Holzkanten, während sie hin und her lief, mit den Händen in der Luft herumfuchtelte und geiferte: »Wie kannst du es wagen, solche unverschämten Lügen über mein Haus zu verbreiten! Ich behandle dich wie meine eigene Tochter – und du dankst es mir so! Mit diesen Lügen?« Rund um die schwarze Iris sah man das Weiße ihrer Augen, und in ihren dünnen Mundwinkeln sammelte sich der Speichel. »Dir gefällt mein Haus nicht? Dann schick ich dich eben zu Mac. Du wirst schon sehen, was für gutes Essen es da gibt! Du kannst froh sein, dass ich dir überhaupt erlaube, mit den anderen Mädchen an einem Tisch zu sitzen, mit deinem scheußlichen Gesicht! In Argentinien würde man dir nicht mal erlauben, das Haus zu verlassen!« Mein Gesicht. Ich fühlte, wie die Narben an meinem Kinn pochten.
    »Was weißt du schon von einem vornehmen Haus? Bloß ein gewöhnliches Stück Dreck! Die Mutter im Gefängnis! Weißt du, du stinkst wie ein Müllhaufen! Wenn du ins Zimmer kommst, halten die Mädchen den Atem an. Du beschmutzt mein Haus! Deine Gegenwart ist eine Beleidigung für mich. Ich will dich gar nicht anschauen!« Sie drehte sich um und zeigte die polierte Treppe hinauf. »Geh in dein Zimmer und bleib da!«
    Ich stand auf, zögerte jedoch. »Was ist mit dem Abendessen?«
    Sie drehte sich auf ihrer Ledersohle um und lachte. »Morgen vielleicht.«
    Ich lag auf meinem Bett in dem schönen Schlafzimmer, das nach Zedernholz roch, mein

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