Weißer Schatten
Stück aus dem Waschlappen. »Geben Sie mir Ihren Fuß!« Ich legte ihn wieder in ihren Schoß. Sie nahm
das blutige Papier herunter und betrachtete den Schnitt. »Zumindest scheint es aufgehört zu haben zu bluten.« Sie nahm den
Waschlappen und wickelte ihn um meine Ferse. »Irgendwer muss gestern Abend, während wir beim Essen waren, das Fenster von
innen geöffnet haben. Anders kann es nicht gewesen sein. Man kann das Fenster von außen nicht öffnen.«
Ich sagte nichts. Emma würde nicht hören wollen, wie unglaublich ihre Theorie war. Wie sollte man solch ein Reptil herumschleppen?
Wie stopfte man es durch den Schlitz eines halboffenen Fenster? Woher wussten »sie«, dass wir hier schliefen? Wie waren sie
mitten in der Nacht mit einer drei Meter langen Giftschlange von der Hauptstraße hierher gelangt, und woher hatten sie genau
gewusst, welches Fenster Emma gehörte?
Emma zog eine kleine silberne Sicherheitsnadel aus der Ledertasche und befestigte den Verband. Sie tippte mit ihrer Handfläche
gegen meine Zehen. »So«, sagte sie, zufrieden mit ihrer Arbeit.
Ich nahm meinen Fuß von ihrem Schoß. Wir standen beide auf. In der Badezimmertür blieb sie stehen und wandte sich mir mit
ernsthaftem Gesichtsausdruck zu.
»Danke, Lemmer. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.«
Ich hatte nichts zu sagen. Ich wartete, dass sie ging.
»Wie schaffen Sie das Lemmer? Laufen Sie?«
»Wie bitte?«
»An Ihnen ist kein Gramm Fett.«
»Oh.« Das hatte ich nicht erwartet. »Ja … Ich laufe. Und … solche Sachen.«
|66| »Sie müssen mir irgendwann mal von ›solchen Sachen‹ erzählen«, sagte Emma und verschwand mit einem zarten Lächeln auf den
Lippen.
Als ich wieder im Dunkeln auf meinem Bett lag und vergebens auf den Schlaf wartete, dachte ich darüber nach, dass Emma diese
angebliche Verschwörung mit derart ruhiger Zuversicht betrachtete. Für sie war das alles absolut wirklich, eine echte Tatsache,
eine unglückliche Realität, mit der sie nun einmal leben musste. Es ließ sie nicht hysterisch werden, sie war bloß pragmatisch.
Jemand will mich umbringen
–
ich engagiere einen Bodyguard.
Problem gelöst.
Irgendwie war das auch schmeichelhaft, ihr kindisches Vertrauen, ihr Glaube an meine Fähigkeiten. Aber mich stellte das nicht
zufrieden, immerhin war es dieselbe Frau, die sich in imaginäre Geschichten verstrickte. Anfangs hatte ich vermutet, dass
sie log. Jetzt ging ich davon aus, dass sie es sich einbildete, dass die Illusionen ihrer Sehnsucht entsprangen.
Ich lag lange in der Dunkelheit und lauschte den Geräuschen des Buschs, den Nachtvögeln, einer Hyäne. Einmal glaubte ich,
einen Löwen brüllen zu hören. Gerade als ich einzuschlafen begann, war da noch ein Geräusch: die leisen Schritte Emmas nackter
Füße im Wohnzimmer, an mir vorbei zu dem Einzelbett neben mir. Es folgte ein Rascheln von Leinen, dann war alles still.
Ich hörte Emma langsam ausatmen, als fühlte sie sich wohl – oder als wäre sie erleichtert.
|67| 9
Greg
–
Leitung Gästebetreuung
– er hatte dünnes, blondes Haar, und seine gerötete Haut kam nicht gut mit der Sonne klar. Seine khakifarbene Uniform war
in der Hüfte ein wenig eng. »Ich möchte mich wirklich ausdrücklich entschuldigen. Dieser Zwischenfall ist vollkommen inakzeptabel.
Wir werden Sie natürlich umquartieren und Ihnen die Nacht nicht in Rechnung stellen.« Er schaute auf die tote Schlange herunter.
Es war sehr früh am Morgen. Neben dem toten Reptil stand
Dick
–
Leitender Wildhüter und Naturführer
.
»Das ist eine schwarze Mamba, ein tolles Tier«, sagte Dick zu Emma, als gehörte ihm die Schlange. Er war ihr Typ und wusste
es – ein Orlando-Bloom-Klon von Mitte dreißig, gebräunt, große Klappe. Nachdem ihm klargeworden war, dass Emma allein im Doppelbett,
hinter einer verschlossenen Tür, gelegen hatte, als die Sache mit der Schlange passiert war, konzentrierte er all seine Aufmerksamkeit
auf sie.
Der schwarze Ranger (
Sello
–
Wildhüter und Naturführer)
und ich betrachteten das tote Tier. Es war schon heiß am Morgen. Ich hatte nicht viel geschlafen. Ich konnte Dick nicht leiden.
»Sie müssen uns nicht umquartieren«, sagte Emma zu Greg.
»Die meistgefürchtete Schlange in Afrika. Nervengift – die Lungen versagen innerhalb von acht Stunden, wenn man kein Gegengift
bekommt. Sehr aktiv, vor allem zu dieser Jahreszeit, vor dem Regen. Sehr aggressiv, wenn sie in die Enge getrieben
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