Weißer Schatten
nicht sagen …«
Aber Emma war nicht zu stoppen. Die Wut ließ ihre Stimme tief und drängend klingen. »Wissen Sie, was das Problem ist, Lemmer?
Wir leben im Zeitalter der Handys und |106| iPods. Jeder hat Kopfhörer auf, und alle leben in ihren kleinen Welten, wo niemand jemand anders hören will, alle wollen ihre
eigene Musik hören. Wir separieren uns voneinander. Wir interessieren uns nicht füreinander. Wir bauen Mauern und Sicherheitstore,
unsere Welt wird kleiner und kleiner, wir leben in Kokons, in kleinen sicheren Zellen. Wir reden nicht mehr miteinander, wir
hören einander nicht mehr. Wir fahren zur Arbeit, jeder in seinem Wagen, in seinem eigenen stählernen Käfig. Und wir hören
einander nicht mehr. So will ich nicht leben. Ich will die Menschen hören. Ich will die Menschen kennenlernen. Ich will
Sie
hören, Lemmer. Nicht, wenn Sie als der starke, schweigsame Bodyguard auftreten. Sondern als Mensch. Mit einer Geschichte.
Mit Meinungen und Sichtweisen, die ich mir anhören und dann mit meinen eigenen vergleichen möchte, um meine zu ändern, wenn
ich sollte. Wie kann man sonst wachsen? So werden Menschen Rassisten, Sexisten und Terroristen. Weil wir nicht reden, nicht
zuhören, weil wir nichts wissen. Wir leben nur noch in unseren eigenen Köpfen.« All das sagte sie in vollständigen, flüssigen
Sätzen, und als sie fertig war, vollführte sie eine frustrierte Geste mit ihren kleinen, schlanken Händen.
Ich musste zugeben, dass sie mich beinahe überzeugt hatte. Einen Augenblick wollte ich der Versuchung nachgeben und sagen:
»Sie haben recht, Emma le Roux, aber das ist nur ein Teil der Geschichte.« Aber dann erinnerte ich mich, dass ich, wenn es
um meine Mitmenschen ging, ein Anhänger der Schule Jean Paul Sartres war, und ich sagte nur: »Aber Sie müssen zugeben, dass
Ihre Arbeit anders ist als meine.«
Sie schüttelte langsam den Kopf und zuckte verzweifelt mit den Achseln.
Über eine Stunde fuhren wir schweigend, durch White River und Nelspruit, dann durch die wundervolle Landschaft hinter der
Stadt – die Berge, die Ausblicke, die gewundene Straße den Hang hoch nach Badplaas, zum Eingang des Heuningklip Wildlife Preserve.
Keine aufwendig gestaltete Einfahrt, nur ein hohes Maschendrahttor in einem Maschendrahtzaun |107| und ein kleines Schild mit einem Namen und einer Telefonnummer. Das Tor war verschlossen.
Emma wählte die Nummer. Es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete.
»Mr. Moller?« Offenbar war er es. »Ich heiße Emma le Roux. Ich möchte sehr gerne mit Ihnen über Cobie de Villiers sprechen.«
Sie hörte zu, dann sagte sie: »Ich danke Ihnen«, und legte auf.
»Er schickt jemand, um das Tor zu öffnen.« Sie war genervt.
Zehn Minuten Schweigen vergingen, bevor ein junger Mann in einem blauen Overall in einem Pick-up vorfuhr. Er sagte, er heiße
Septimus. Er schielte auf einem Auge. »Onkel Stef ist in der Scheune. Kommt mit!«
»Ah, meine Liebe, ich muss ehrlich sagen, dass er nicht wirklich wie Cobie aussieht«, sagte Stef Moller, Multimillionär, entschuldigend
und reichte Emma mit schmierigen Fingern das Foto vorsichtig zurück.
Er stand in einer großen rostigen Blechscheune neben einem Traktor, an dem er gearbeitet hatte, als wir kamen. Ein Durcheinander
aus Werkzeugen, Reifen, Tonnen, Büchsen, Stahlregalen, Werkbänken, Farbdosen, Pinseln, Kaffeebechern, leeren Colaflaschen,
alten Reifen, ein Teller mit Krümeln drauf, und es roch nach Diesel und Luzerne. Eine ganz normale Scheune eben. Irgendetwas
beschäftigte mein Unterbewusstsein. Vielleicht war es der Kontrast zwischen Erwartung und Wirklichkeit. Auf Mollers verblasstem
T-Shirt und seiner Jeans waren Ölflecken. Er war beinahe sechzig, groß und fast kahl. Die kräftigen Hände eines Arbeiters.
Seine Augen waren groß und zwinkerten hinter goldgefassten Brillengläsern; er sprach entsetzlich langsam. Er sah nicht aus
wie ein reicher Mann.
Emma nahm das Foto wortlos entgegen. Sie konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Der Tag begann seinen Tribut zu fordern.
»Es tut mir leid«, sagte Moller ernst.
|108| »Schon in Ordnung«, sagte Emma, aber sie meinte es nicht so.
Wir standen schweigend im Dämmerlicht der Scheune. Das Zinkdach quietschte in der Hitze. Moller zwinkerte. Er schaute von
mir zu Emma, zurück zu mir.
Vorsichtig fragte sie: »Mr. Moller, wie lange hat er für Sie gearbeitet?«
»Einfach Stef, meine Liebe.« Er zögerte, als müsse
Weitere Kostenlose Bücher