Weisser Schrecken
Bruchkante. Robert schluckte. Der Knochen war von Schrämmspuren überzogen, so als sei er einst von scharfen Zähnen bearbeitet worden. Robert nahm Andy kurzerhand die Lampe ab und untersuchte weitere Nischen. Manche der dortigen Knochen waren sogar der Länge nach aufgebrochen worden, so als habe jemand versucht, an das Mark zu gelangen.
»Scheiße, das hier wirkt so, als habe man die Kinder einst wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen. Bären oder so.«
»Bären?« Andy schnaubte unheilvoll. »Sag mir nicht, dass du nach alledem, was wir bisher erlebt haben, noch an Bären glaubst.«
»Du denkst … Oh Mann. Etwa Kannibalismus? Haben die Mönche aus dem Kloster oben etwa all diese Kinder hier gefressen?«
»Weiß nicht.« Andy starrte die Gebeine unheilvoll an. »Ich denke da eher an etwas viel Schlimmeres …«
Robert verzichtete auf eine Antwort. »Mich beunruhigt übrigens noch etwas anderes«, sagte er stattdessen. »All die Toten hier, das wirkt auf mich nicht so, als wären die nicht ordentlich bestattet worden. Eher so, als habe man die Knochen hier unten bloß wild zusammengetragen. Siehst du.« Er deutete abwechselnd zu einigen Nischen an der Wand vor ihnen. »Hier vorn finden sich die Überreste von Rippen. Da hinten wurden gleich drei Köpfe gestapelt … Oder sind es vier? Und das da sind doch aufgestapelte Hüftknochen, oder?«
Andy runzelte die Stirn und nickte. »Ja, stimmt. Das hier ist eher ein Knochenlager denn ein echter Friedhof.« Er ging gebückt weiter und kam an einer Nische vorbei, in der keine Knochen lagen, sondern Aberdutzende Amulette. Darunter auffallend viele aus Hörn, Glas und Bernstein. Auf ihnen waren stilisierte Schneckenhäuser, Sonnenräder, Geweihe und seltsame Flechtwerke abgebildet. Er nahm eines der Bernsteinamulette in die Hand und beleuchtete es. »Irgendwie sieht das Ding nicht sehr christlich aus, wenn du mich fragst, sondern viel älter. Ob die hier vielleicht Knochen aus viel früheren Jahren zusammengetragen haben?«
»Du meinst, aus vorchristlicher Zeit? Heilige Scheiße!« Robert atmete besorgt die abgestandene Luft ein, dann gingen sie weiter. Schnell zeigte es sich, dass die Katakombe den vagen Grundriss eines Weihnachtsbaums besaß. Der Gang, durch den sie den unterirdischen Friedhof betreten hatten, war nur einer von mehreren schräg verlaufenden und sich zunehmend verkürzenden Abzweigungen, die alle auf einen Hauptgang zuführten. Erst hier konnte Andy wieder aufrecht stehen. Überraschenderweise waren die Gebeinnischen an diesem Ort allesamt viel länger und breiter als die Hohlräume jenes Bereichs, aus dem sie kamen. Im Gegensatz zu den Grabnischen in den abzweigenden Gängen bargen sie vollständige Skelette mit überkreuzten Armen, deren Kleidung zwar vermodert war, aber dennoch herrschaftlich wirkte. Über der Grabnische stand in Stein gemeißelt Lux perpetua luceat ei, was Robert mit einiger Mühe als »Das ewige Licht leuchte ihm« übersetzte. Andy strebte im Halbdunkel bereits einem düsteren Gewölbe entgegen, dessen Zugang sich am Ende des Hauptgangs abzeichnete, als ihn Robert am Arm fasste und anhalten ließ. »Andy, die Skelette! Das sind ebenfalls Kinder.«
»Ja, sehe ich.«
»Dann schau dir auch die Kleidung an.« Er beleuchtete eines der Kinderskelette genauer. Der löchrige Stoff hatte zwar viel an Farbe und Form verloren, doch im grellen Lichtschein war zu sehen, dass das Untergewand einstmals weiß gewesen war. Sogar die vermoderten Überreste eine Schärpe waren auszumachen. »Das sind keine einfachen Leichenhemden. Das sind … Bischofsgewänder!« Robert strahlte die liturgische Kopfbedeckung des Skeletts vor ihnen an, das den charakteristischen Kreuzschmuck einer Mitra aufwies. Damit war auch der letzte Zweifel ausgeräumt.
Andy ächzte. »Was, zum Teufel, haben die hier in diesem elenden Kloster bloß getrieben?« Er nahm Robert die Taschenlampe wieder ab und eilte an den Seitengängen vorbei zu dem Gewölbe am Ende des Hauptgangs. Vor ihnen schälte sich eine Art Basilika aus dem Dunkeln, ein großes Tonnengewölbe, das Ähnlichkeiten mit einer Kapelle aufwies.
In den hinteren Raumecken erhoben sich zwei marmorne Statuen, die ohne Zweifel den heiligen Nikolaus von Myra darstellten. Ebenso wie bei den Darstellungen in der Dorfkirche war er an seinem Bischofsgewand, der Mitra auf dem Haupt, dem Hirtenstab in der Rechten und dem charakteristischen Bethen- Buch mit den drei vergoldeten Äpfeln zu erkennen. Und ebenso wie im Ort
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