Weisser Schrecken
geschieht?«
»Ich sag’s auch den anderen. Ich sag es Gretl. Und Michi. Und Stefan und Jonas.« Elke Augenlider zitterten, und sie sprach weiter, ohne dass Miriam fragen musste. »Wir … gehen jetzt … zusammen zu Strobel. Michi behauptet, er wolle auch mit. Wir alle wollen das. Aber das ist … eine Lüge. Die wollen mich bloß nicht allein lassen. Strobel guckt wie ein Golf Diesel. Das … hat er jetzt davon. Aber dann sagt er, dass alle mitkommen können. Aber dass wir ja niemandem was sagen sollen.«
»Wann will er mit euch in den Wald?«
»Nikolaus. Er will mit uns zu Nikolaus in den Wald …« Elkes Gesichtsmuskeln zuckten. »Aber wir trauen ihm nicht. Die Jungs forschen nach.« Elkes Stimme klang immer verstörter. »Jonas sagt … Aber das ist so furchtbar!« Unvermittelt quoll eine Träne unter Elkes geschlossenen Augenlidern hervor und rann stockend über ihre Wange. Miriam wusste nicht, was sie tun sollte. Was hätte der Mann im Fernsehen jetzt getan? »Jonas hat all diese alten Schriften gefunden«, jammerte Elke plötzlich. »Von Hexen und … Teufeln … .«
»Welche Schriften? Bitte, sag mir wo sie sind.«
»Bei seinem Vater. Der … der ist genau so komisch wie mein Vater. Und darin …« Elke wimmerte jetzt.
»Was ist mit diesen Schriften, Elke? Was?«
»Jonas’ Vater weiß nicht, dass er sie an sich genommen hat«, keuchte sie. »Er versteckt sie unter den Dielenbrettern in seinem Zimmer … Aber … Das ist so fürchterlich …« Elkes Stimme überschlug sich fast, als sie weiterhaspelte. »Alle werden sterben. Alle … Wenn wir das nicht aufhalten, werden alle sterben!« Die Tränen rannen ihr nur so übers Gesicht. »Wir müssen mit Strobel in den Wald … Jetzt müssen wir. Wir müssen. Sonst werden alle sterben … Der viele Schnee … . Oh Gott, er greift nach uns. Das ist kein Schnee. Das ist … Er greift nach mir!«
»Elke!«, rief Miriam verzweifelt. »Wo? Wo seid ihr jetzt?«
»Ich will da nicht runter. Neeeiiiiiin! Ich wiiillll niiiiicht.« Elke schrie, und ihr rechter Arm zuckte in abwehrender Haltung nach oben. Ihr Gesicht war jetzt vor Grauen verzerrt. Plötzlich krümmte sie sich wie ein Fötus zusammen, sogar den Daumen nahm sie in den Mund. Himmel, Miriam spürte, dass sie die ganze Sache sofort abbrechen musste. Elke wimmerte nun wie ein kleines Mädchen, das versuchte, sich in der Finsternis mit Gesang Mut zu machen. »Backe, backe, Kuchen, der Bäcker hat gerufen, wer will guten Kuchen machen, der muss haben sieben Sachen, Zucker und Salz … Zucker und Salz … Zucker und Salz …«
»Elke!«, rief Miriam erschrocken. »Elke, hörst du mich?« Der Gesang ging über in ein hässliches Knirschen, das ihre Schwester mit ihren Zähnen verursachte. Miriam versagte vor Grauen fast die Stimme. »Du vergisst sofort alles, was du gerade siehst!«, haspelte sie. »Du vergisst es. Hörst du mich. Du vergisst es!« Miriam zitterte, denn Elke knirschte noch immer mit den Zähnen. Allein der Gedanke daran, was sie Elke angetan hatte, gab ihr die Kraft weitermachen. »Entspann dich. Alles ist gut. Niemand kann dir etwas anhaben.« Ihr kamen fast die Tränen. Doch sie erinnerte sich daran, wie wichtig es war, den Hypnotisierten sorgsam auf das Erwachen vorzubereiten. »Du reist im Geiste wieder in der Zeit voran. Zurück in dein heutiges Leben. Ins Jahr 1994.« Das laute Zähnekrirschen verstummte. Elke lag noch immer mit dem Kopf auf Miriams Schoß, doch sie atmete jetzt ruhig. Miriam richtete ihre Schwester behutsam auf. »Wie ist dein Name? Bitte … sag mir, wie dein Name ist.«
»Elke …«
Miriam hätte vor Erleichterung schreien mögen. Doch aus Elkes Stimme war große Erschöpfung herauszuhören. Sie waren zu weit gegangen. Sie war zu weit gegangen. »Elke, du wirst nun langsam wieder erwachen. Stell dir vor, dein Schlaf ist wie ein See. Langsam schwimmst du an die Oberfläche. Dem Licht entgegen.« Miriams Stimme klang brüchig. »Je näher du der Oberfläche kommst, desto mehr Kraft schöpfst du. Ich zähle jetzt rückwärts von drei bis eins. Wenn ich in die Hand klatsche, dann wirst du erwachen … Drei!« Elkes Augenlider zitterten. »Zwei! Du bist dem Erwachen jetzt ganz nah … Eins!« Miriam klatschte in die Hände. Ihre Schwester stöhnte. Dann, endlich, schlug sie die Augen auf und sah sie verwirrt an.
»Hat … hat es geklappt?«, fragte sie mit heiserer Stimme.
»Ja, verdammt. Es hat geklappt.« Miriam liefen die Tränen über die Wangen, und sie nahm
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