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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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erinnerte sich nun wieder an den Schneeengel. Sie hatte den unheimlichen Zwischenfall ganz vergessen gehabt. Hastig riss sie sich wieder zusammen. Der Typ im Fernsehen hatte die Leute mit Worten langsam zurück in die Vergangenheit geführt. Das musste sie auch versuchen. Behutsam. »Elke, wir werden jetzt zurückwandern. Zurück durch Zeit und Raum. Erinnere dich an den Sommer diesen Jahres. Wir haben da etwas sehr Lustiges erlebt, über das wir lange gelacht haben. Erinnerst du dich?« Elkes Augäpfel rollten unter den geschlossenen Lidern, und unvermittelt lächelte sie. »Wir sind nachts heimlich raus zum See … schwimmen. Andy und Robert haben Niklas mit seiner ganzen Kleidung ins Wasser geworfen … weil er nicht mit rein wollte.«
    »Weiß du noch, was Andy anhatte?«
    »Nur seine … Unterhose. Mit den Blümchen.« Elke lachte, und auch Miriam musste unwillkürlich grinsen.
    »Wir gehen jetzt weiter zurück, Elke. Einige Jahre zurück. Zu dem Zeitpunkt, an dem wir beide unseren achten Geburtstag feiern. Erinnerst du dich an unseren achten Geburtstag?«
    »Ja … Mutter … Mutter hat uns einen Kirschkuchen gebacken.« Elke lächelte geisterhaft und bewegte sich leicht vor, sodass das Bett unter ihnen knarrte. »Wir futtern nachmittags heimlich den ganzen Kuchen auf. Bis uns so schlecht wird, dass wir brechen müssen. Mutter schimpft mit uns.«
    Miriam hob eine Augenbraue. Stimmt, das hatte sie ganz vergessen. »Weißt du auch noch, was ich dir zum Geburtstag geschenkt habe?«
    »Deine … Barbiepuppe. Weil meine kaputt ist.« Es stimmte. Elke hatte ja keine Ahnung, wie sehr sie sich darüber im Nachhinein geärgert hatte.
    Miriam wurde mutiger. »Wir gehen jetzt noch weiter zurück. Zu … zu unserem fünften Geburtstag. Erinnerst du dich auch daran?« Miriam hatte selbst nicht den blassesten Schimmer, was damals passiert war. Elke schwankte leicht hin und her. »Erinnerst du dich an unseren fünften Geburtstag?«, wiederholte Miriam ihre Frage.
    »Mama«, greinte Elke plötzlich mit Kleinmädchenstimme los. »Miriam hat meine Kerze ausgepustet. Das darf sie doch nicht, oder?«
    »Nein, das darf sie nicht«, flüsterte Miriam betroffen und sah ihre Schwester baff an. Ob sie noch einen Schritt weiter gehen sollte? Ihr wurde mulmig; schnell riss sie sich wieder zusammen. Elke durfte ihr ihre Unsicherheit nicht anmerken, das war entscheidend. Dabei hätte sie die Sache am liebsten abgebrochen. Unhörbar atmete sie ein. »Wir gehen jetzt noch weiter zurück, Elke. Bis zu unserer Geburt. Was siehst du?«
    »Weh … Licht …«, wimmerte Elke leise. Mein Gott, es funktionierte. Elke folgte ihren Anweisungen sogar jetzt noch. Miriam wurde unbehaglich zumute. Ob das an dem Einfluss dieses Zimmers lag? Sie sah sich rasch zu der Kerze auf dem Tisch um, die unruhig flackerte, und fasste dann all ihren Mut zusammen. »Elke, wir reisen jetzt noch tiefer in die Vergangenheit. Es mag seltsam sein, aber du kannst noch weiter zurückgehen. Weit vor deine Geburt. Du wirst entdecken, dass du noch mehr Erinnerungen hast. An ein Leben vor diesem …«
    »Dun … kel«, ächzte ihre Schwester.
    »Lass deinen Geist zurückwandern.« Miriams Körper war gespannt wie eine Feder. Jetzt kam der alles entscheidende Schritt. »Reise so lange zurück, bis du wieder etwas siehst«, forderte sie Miriam atemlos auf. Elke verzog unmerklich das Gesicht, so als wäre da ein Widerstand, den sie überwinden musste.
    »Siehst du etwas?« Die Frage kostete Miriam all ihre Entschlossenheit.
    Elke brummte leise, doch unvermittelt hielt sie still und sprach in einem leicht verändertem Tonfall. »Ich sitze in der Schule.«
    Oh Gott. War das noch Elke? Sie klang so komisch. Miriam brach der kalte Schweiß aus, und sie spürte, wie sich ihre Finger um das Pendel krampften. »In welcher Schule?«
    »In … Berchtesgaden. Wo denn sonst?«, antwortete Elke.
    »Wie heißt du?« Elke schien zu überlegen. »Anna … Anna Bierbichler.« Miriam atmete scharfein. Gott, Elke war Anna! Sie war tatsächlich Anna. Fröstelnd fuhr sie sich über die Arme. »Welches Jahr haben wir?«
    »Neunzehnhundert … achtundziebzig.«
    »Siehst du noch jemanden?«
    »Ja …«, wisperte Elke gedehnt. »Frank. Ich sitze in der Bank hinter ihm.«
    »Erzähl mir, wer Frank ist?«
    »So ’n Klassenkamerad von mir. Der gibt damit an, dass er in zwei Wochen zur Aufnahme von Disco nach Unterföhringen fährt. Er … er will mir ein Autogramm mitbringen. Von Ilja Richter

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