Weisser Schrecken
den Tagen zuvor waren die blassen Geistergestalten mit Mitra und Bischofsgewändern angetan und starrten sie stumm aus tiefschwarzen Augen an.
»Gott, was ist das?«, keuchte Niklas’ Vater, der sich längst wieder erhoben hatte und nun hinüber zu Schober und Krapf taumelte. Die wussten ebenfalls nicht, wie ihnen geschah. Die geisterhaften Kinderbischöfe hoben ihre Krummstäbe und öffneten ihre Münder zu einem stummen Schrei!
In diesem Augenblick donnerte es irgendwo über ihnen im Gebirge. Eine Explosion? Andreas war sich nicht sicher, doch der dumpfe Nachhall des Lärms rollte über die verschneite Bergwelt hinweg und mit ihm verblassten die vielen Geister um sie herum. Krapf und Eichelhuber stierten entgeistert gen Osten, da dem Donnerhall ein dumpfes Brausen und Rumoren folgte, das beständig lauter wurde.
»Eine Lawine!«, brüllte Krapf panisch. »Eine Lawine! Sie kommt auf uns zu!«
Er wollte bereit fortlaufen, doch Eichelhuber packte ihn und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Krapf ging röchelnd zu Boden. »Nicht, bevor wir hier fertig sind!«, brüllte er wie im Fieber. Er klappte mit wildem Blick ein Taschenmesser auf. Das Getöse über ihnen in den Bergen wurde lauter und Andreas glaubte bereits, in der Ferne eine graue Wand aus Schneestaub aufsteigen zu sehen. Panisch schüttelte er Schobers Hand ab und rammte dem überrumpelten Mann das Knie zwischen die Beine. Mit einem Aufschrei hetzte er zu der keltischen Bethenstatue, an der noch immer Robert und Niklas hingen, als er über sich zwischen den Bäumen eine weiße Schneewand auf sich zurollen sah. Jäh fegte ein kräftiger Wind über die Lichtung hinweg. Hinter ihm gellten panische Schreie auf und da sich Andreas nicht anders zu helfen wusste, sprang er an der Statue empor. Er benutzte Robert und Niklas Leiber als Steighilfen, klammerte sich am Gestein fest und duckte sich.
»Mach uns frei!«, rief Niklas noch, als die Lawine endgültig über die Lichtung rollte. Äste und Zweige brachen und die Lawine brauste wie eine weiße Flutwelle unter ihm hinweg, erfüllte die Luft mit Staub und Lärm und donnerte irgendwo hinter ihm zwischen den Bäumen hindurch. Nach und nach verebbte der Lärm. Andreas hustete und versuchte angesichts des vielen Schneestaubs in der Luft etwas zu erkennen. Doch alles, was er sah, war Schnee, der die Lichtung jetzt bis zu seinen Knöcheln bedeckte. Allein die Statuen ragten noch ein Stück weit aus dem weißen Untergrund hervor. Von den Erwachsenen war nichts mehr zu sehen. Leider auch nicht von seinen Freunden.
»Lebt ihr noch?«, rief Andreas voller Panik. Weiter hinten, zwischen den Bäumen jenseits der Lichtung, war ein lautes Husten und Spucken zu hören.
»Wir sind hier!«, ertönte die Stimme Elkes. »Wir sind die Bäume rauf, aber wir stecken fest!« Andreas spürte unter seinen Füßen zappelnde Bewegung.
»Befreit euch und kommt so schnell wie möglich her!«, brüllte er. »Robert und Niklas sind unter dem Schnee begraben.« Längst hatte er sich von der Statue gelöst und begann nun damit, den Schnee unter sich mit den Händen fortzuschaufeln, dort, wo er Robert vermutete. Es dauerte nicht lange, und er fühlte den Kopf seines Freundes unter seinen Fingern. Sofort befreite er dessen Nase und Mund von Schnee und Frost. Robert japste und rang keuchend nach Luft. »Alles klar?«, rief Andreas.
»Ja«, keuchte Robert unter ihm. »Kümmere dich um Niklas!«
Andreas ließ ihn wo er war und buddelte mit beiden Händen nach Niklas. Irgendwo schräg hinter ihm stapften Elke und Miriam durch den hohen Schnee. Beide waren über und über mit Eisstaub bedeckt, und immer wieder sanken sie bis zu den Knien im weißen Untergrund ein. Als sie endlich bei ihm waren, halfen sie ihm sogleich dabei, Niklas auszugraben. Eine unendlich währende Zeitspanne später hatten sie ihn gefunden. Niklas Augen waren geschlossen und er bewegte sich nicht.
»Niklas!«, brüllte Andreas angsterfüllt und schlug ihm mehrfach gegen die Wangen. Andreas glaubte bereits, sein Freund sei tot, als dessen Gesichtsmuskeln zuckten und er einen keuchenden Atemzug tat. Sogleich hustete er krampfhaft und spuckte Schnee aus. Andreas sah, dass die Mädchen ebenso erleichtert waren, wie er selbst. Zu dritt gruben sie ihre Freunde aus und Andreas besann sich wieder der Sichel, die er im Sägewerk eingesteckt hatte. Er nahm sie zur Hand und durchtrennte mit ihr die Stricke, die die beiden Freunde zum Glück aufrecht gehalten hatten. Sie warfen sich
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