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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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Handgelenken war das Eis aufgemeißelt und weggeschmolzen worden. Die Männer hatten offenbar versucht, den gefrorenen Parka aufzutrennen, um so an die Innentaschen zu gelangen. Andreas und Robert indes hatten nur einen Blick für das herzförmige Gesicht mit den bleichen Lippen. Selbst im Tod wirkte es porzellanhaft schön. Die Haare des toten Mädchens umspielten die Schultern wie gefrorene Kaskaden aus Honig, und die kleinen Eisklümpchen an Wimpern und Brauen verliehen ihr einen fast überirdischen Glanz.
    »Heilige Scheiße!«, ächzte Robert. Andreas fehlten beim Anblick der Leiche die Worte. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Das Mädchen sah tatsächlich aus wie ein Ebenbild Elkes und Miriams. Sogar Größe und Alter stimmten.
    »Dann haben die beiden also doch eine weitere Schwester?«, rätselte Robert. »Aber wie ist das möglich? Das müssten sie doch wissen?«
    »Nicht, wenn sie früh genug von ihrem Drilling getrennt worden sind«, antwortete Andreas aufgewühlt. Fieberhaft suchte sein Gehirn nach einer Lösung. »Angeblich … angeblich vergisst ein Mensch alles, was vor dem vierten Lebensjahr passiert. Ich meine, es wäre doch möglich, dass Elkes und Miriams Drilling damals entführt wurde?«
    »Wieso entführt?«, »Na, überleg mal. Sie muss doch in all den Jahren irgendwo aufgewachsen sein? Die ist garantiert nicht freiwillig von zu Hause ferngeblieben. Irgendjemand muss sich in all der Zeit um sie gekümmert haben. Vermutlich da draußen, irgendwo tief im Forst.« Andreas grauste die Vorstellung. »Vielleicht war sie all die Jahre über eingesperrt und total allein. Erinnerst du dich noch an Kaspar Hauser, den Film, den wir im Sommer gesehen haben?«
    »Klar.«
    »Siehst du. So etwas passiert. Immer wieder. Und jetzt … Es ist doch möglich, dass sie es endlich geschafft hat zu fliehen. Und ich kann dir auch sagen, wann: das Ganze muss vor ’ner knappen Woche passiert sein. Du weißt schon, da war diese Schneeschmelze. Und dabei ist sie dann in den Bach gestürzt, hat sich vielleicht das Genick gebrochen und wurde bis zu uns in den Perchtensee geschwemmt, wo sie vom Frost überrascht wurde und eingefroren ist.« Andreas war von seinem detektivischen Gespür selbst überwältigt. Robert sah ihn ernst an und schlug sich das schwarze Haar zurück, das wie angeklatscht auf seinem rasierten Schädel lag. »Weißt du was?«
    »Nee?«
    »Du erzählst Schwachsinn!«
    »Ach!« Andreas schnaubte sauer. »Dann hast du eine bessere Erklärung?«
    »Muss ich gar nicht. Die finden wir vielleicht da vorn.« Robert nickte in Richtung des Tisches.
    »Wenn die bei der Untersuchung was notiert haben, dann haben sie es mitgenommen«, meinte Andreas.
    Robert aber beachtete ihn nicht weiter, sondern griff sich die Arzttasche von Doktor Bayer und durchwühlte sie. Neben Pillendosen und Schachteln fischte er ein Stethoskop hervor. Plötzlich hielt er inne, nur um anschließend ein Diktiergerät zu präsentierten. »Schau mal.«
    Tatsächlich, die kleine Kassette in dem Gerät war bespielt.
    »Na los, spul das Ding zurück und mach es an«, forderte Andreas seinen Freund auf. Robert tat es und betätigte die Play-Taste. In dem Lautsprecher des Diktiergerätes knisterte es, kurz darauf hallte die tonlose Stimme von Doktor Bayer von den Wänden: Wir haben heute den 4. Dezember 1994, und es ist jetzt 18.11 Uhr. Vor mir liegt eine weibliche Mädchenleiche , die heute gegen 16 Uhr im zugefrorenen Perchtenseegefunden wurde. Pikanterweise handelt es sich bei dem Mädchen, das die Tote gefunden hat, um die Teenagerin Elke Bierbichler, auf die noch zurückzukommen sein wird. Andreas bedachte Robert mit einem ›Na, siehst du-Blick‹ und lauschte weiter der Stimme des Tierarztes. Da die Polizeibeamten unten aus Berchtesgaden wegen eines Schneesturms nicht zu uns ins Tal kommen können, insbesondere aber wegen der außergewöhnlichen Umstände des Leichenfundes, bat mich unser Bürgermeister Alois Schober, eine erste Begutachtung an der Toten vorzunehmen. Ort der Untersuchung ist die alte Leichenhalle Perchtals, und als Zeugen anwesend sind unser Bürgermeister, Pfarrer Strobel sowie Jochen Krapf, Zugführer der hiesigen freiwilligen Feuerwehr. Es klickte in regelmäßigen Abständen, und weitere Einzelheiten folgten. Geschätztes Alter der Toten: 14 bis 16 Jahre, wobei wir stark davon ausgehen, dass das Mädchen zum Zeitpunkt des Todes 15 Jahre war, da dies der Akten lage entspricht. Robert warf Andreas einen irritierten Blick

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