Weisser Schrecken
Eindruck, als wollten seine Freunde von der Tür ablassen, doch unvermittelt drehten sich die beiden wieder um und verschwanden kurz darauf in der Leichenhalle. Mann, die machten das wirklich!
Bewundernd seufzte er. Ihm selbst war vor Aufregung ganz schlecht. All das, was heute bereits passiert war, würde er sein Lebtag nicht vergessen. So etwas wie heute kam sonst nur in Filmen vor. Warum nur war er so feige? Da war doch nichts bei. Das Mädchen da drinnen war tot. Bei dem Gedanken musste er unwillkürlich an das Kissen zurückdenken, das er heute Vormittag unter seiner Bettdecke gefunden hatte. Er begriff noch immer nicht, wie es in sein Zimmer gekommen war. Ob Konrad etwa auch bei ihm gewesen war? Unsinn. Und doch musste er beim Anblick der Leichenhalle daran denken, dass er selbst vor Jahren diesem schauderhaften Ort nur knapp entronnen war. Wenn sein Vater damals nicht zufällig im Kinderzimmer aufgetaucht wäre, als seine Mutter ihn …
Niklas zitterte bei dem Gedanken. Egal, das Kissen war weg. Er hatte es heute Abend mit einem Messer zerschlitzt und beim Nachbarn heimlich in die Mülltonne gestopft.
Wenn sich Andy und Robert bloß etwas beeilen würden. Die waren doch jetzt sicher schon fast zehn Minuten in dieser verdammten Leichenhalle. Was machten die da drin so lange? Niklas riskierte einen Blick auf seine Armbanduhr. Inzwischen war es kurz vor Mitternacht. Mist. Argwöhnisch spähte Niklas an den vielen Gräbern vorbei hinüber zur Kirche. Egal, wo Strobel war, hoffentlich kam der nicht so schnell zurück. In diesem Moment fiel ihm ein, dass er seine Freunde gar nicht warnen konnte, da ihm die Hilfsmittel fehlten. Von hier aus brauchte er schon einen Stein, den er gegen die Tür werfen konnte, falls jemand kam. Hektisch sah er sich um, doch der viele Neuschnee auf dem Friedhof verbarg den Blick auf den Untergrund. Wie sollte er so einen Stein finden? Aufgeregt schob er den Schnee unter sich mit den Schuhen beiseite, doch da war nichts, was sich als Wurfgeschoss missbrauchen ließ … Ein Schneeball! Natürlich. Niklas bückte sich schnaufend und formte aus der weißen Masse zu seinen Füßen zwei große, feste Bälle, die er auf den Sockel der Engelstatue legte. Mit einem dritten Schneeball in Händen erhob er sich wieder und bemerkte nun, dass der Schneefall auf dem Friedhof an Heftigkeit zugenommen hatte. Die vielen Grabsteine um ihn herum waren in defti Treiben nur noch schemenhaft zu erkennen, und selbst die Leichenhalle verschwamm in der Dunkelheit. Niklas wischte sich über die Brillengläser und entdeckte plötzlich ein rötliches Licht zwischen den vielen wirbelnden Flocken. Kam da jemand? Der Lichtschein flackerte unruhig. Ein Grablicht. Sicher, was sonst. Erst jetzt fiel ihm auf, dass das unheimliche Flackern auch zwischen anderen Gräbern zu sehen war. Es waren mindestens ein Dutzend Lichter. Seltsam, dass ihm das vorhin noch nicht aufgefallen war. Niklas trat ein paar Schritte vor die Engelsstatue und erstarrte. Seine Augen mussten ihm einen Streich spielen. Die roten Lichter stiegen wie Funken auf. Völlig unvermittelt schälten sich an ihrer Stelle menschliche Konturen aus dem Schneegestöber. Von den Gestalten ging ein fahles Glühen aus, wie Blut auf glitzerndem Eis. Allesamt trugen sie die Insignien kirchlicher Macht. Sie waren mit roten Messgewändern bekleidet, hielten Krummstäbe in den Händen und trugen die Mitra auf ihren Häuptern, so wie es Bischöfe taten. Doch das waren keine Bischöfe, das waren Kinder. Die hohlwangigen Gestalten starrten ihn aus tiefschwarzen Augen an und hoben ihre Hirtenstäbe.
Niklas wollte schreien, doch kein Laut entrang sich seiner Kehle. Panisch stolperte er zurück in Richtung Engelsstatue, wo zwei der gespenstischen Kinderbischöfe lauerten. Wimmernd warf er sich herum und rannte durch den Schnee hinüber zum Leichenhaus. Bevor er die Klinke zu fassen bekam, rutschte er aus und krachte schmerzhaft gegen die Doppeltür. Kurz wurde es schwarz vor seinen Augen, als über ihm die Totenglocke anschlug. Die Glocke tönte hell, wie eine Stimmgabel auf klirrendem Eis. Panische Schreie drangen an sein Ohr. Dann wurde die Tür aufgerissen und Stiefel schlugen ihm schmerzhaft ins Kreuz. Niklas sah, dass Andy und Robert über ihn stürzten und ebenfalls im Schnee landeten. Hastig sprangen sie wieder auf und starrten verängstigt zurück zur Leichenhalle. Niklas indes glotzte noch immer die Grabreihen an. Wo waren die vielen Kinder? Er wimmerte. Endlich
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