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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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brauchen wir ihn.«
    Robert antwortete nicht, da die schmale Gasse in Sicht kam, wo er und seine Mutter lebten. Die Lampe neben der Haustür brannte zwar, aber die Rollläden vor den Fenstern waren geschlossen. Er wusste daher nicht, ob seine Mutter noch wach war. Er hatte ihr zwar vorhin kurz Bescheid gegeben, dass er heute bei Andy nächtigen würde, doch von dem Leichenfund im See hatte er ihr bewusst nichts erzählt. Die Nachricht hätte sie bloß aufgeregt und ihr einen Grund gegeben, wieder zur Flasche zu greifen. Morgen war immerhin Montag. Da musste sie wieder arbeiten.
    Die Bäckerei der Eichelhubers, die bald darauf in Sicht kam, war leicht zu erkennen. Das weihnachtlich beleuchtete Schaufenster bildete eine Lichtinsel in dem von schiefen Häusern gesäumten Straßenzug. Tannenzweige, Semmeln und Kekse waren um einen fast unterarmgroßen Nikolaus aus rotbraunem Marzipan drapiert, und der Sprühschnee auf den Fensterflächen schimmerte im Schein einer Lichterkette abwechselnd in Grün und Rot.
    »Warte hier!« Andreas huschte über die Straße zum Wohnhaus der Eichelhubers, das der Bäckerei direkt gegenüberlag, und klopfte dort vorsichtig gegen ein Fenster im Erdgeschoss.
    Wenig später öffnete sich die Haustür, und Niklas schlich zu ihnen nach draußen. Wie immer war er dick eingemummelt und trug die kindische Bommelmütze.
    »Ich hab schon auf euch gewartet«, schnaufte er.
    »Super«, meinte Andy zufrieden.
    »Hey, jetzt mal ernsthaft.« Robert klopfte Niklas kameradschaftlich auf die Schulter. »Du musst nicht mit. Was wir vorhaben, ist ziemlich krank. Wenn du dich nicht traust, dann bleib einfach hier. Ist völlig okay.«
    Niklas wischte Schnee von seiner Brille. »Nee … ist schon in Ordnung.« Er schniefte und setzte sich das Gestell wieder auf. »Andy hat ja recht. Es geht schließlich um … die Mädels. Ihr müsst euch um mich keine Gedanken machen. Ehrlich!«
    Im Schaufenster brannte mit leisem Knall eine der Birnen in der Lichterkette durch. Schlagartig wurde es dunkel auf der Straße, und etwas schlug von innen dumpf gegen das Schaufenster. Der maskenhaft lächelnde Marzipan-Nikolaus war umgestürzt und lehnte jetzt mit eingedrücktem Kopf gegen die Scheibe, fast so, als wolle er sie durch das Glas hindurch anstarren. Sein klebriges Gesicht rutschte an dem Glas entlang und die wie blutig wirkende Masse nahm dabei immer fratzenhaftere Züge an, bis die Figur endlich liegen blieb.
    »Lasst … lasst uns losgehen«, sagte Niklas. »Ich will möglichst vor Mitternacht wieder zurück sein. Wir haben doch morgen Schule.«
    Andreas und Niklas entfernten sich bereits, während Robert sorgenvoll die zerdrückte Marzipanfratze hinter dem Fenster anstarrte. Hastig wandte er sich ab und lief hinter seinen Freunden her.
    Die alte Kirche Perchtals stand etwas erhöht auf einem alten Friedhofshügel inmitten der Ortschaft und hob sich in der Dunkelheit grauweiß von den Fachwerkhäusern des benachbarten Marktplatzes ab, unter denen das Amtshaus des Bürgermeisters am deutlichsten hervorstach. Ringsum war das Kirchenareal von einem gusseisernen Zaun umgeben; die wenigen Krüppelbäume auf dem Friedhof schienen mit ihren kahlen und krummen Ästen nach dem Himmel greifen zu wollen. Angeblich entstammte das sakrale Bauwerk dem 12. oder 13. Jahrhundert. Es besaß zwei Seitenschiffe, die sich förmlich vor der Haupthalle wegduckten, wobei das eine dieser Seitenschiffe direkt an das kleine Pfarrhaus grenzte. Die hellen Giebelwände waren schmucklos, doch dafür besaß die Kirche Perchtals rechts vom Chorbogen einen schlanken Glockenturm, der sich einem mahnenden Finger gleich weit über die Dächer der Ortschaft erhob. Das ganze Areal versank förmlich unter Schnee. Von den Schrägdächern angefangen über die Simse des hohen Buntglasfensters auf der Westseite der Kirche bis hinüber zu den Wegen und Grabsteinen, die krumm und schief aus der Erde ragten, war alles mit einer dicken weißen Haube bedeckt. Selbst auf den Streben des Zauns häufte sich die weiße Masse fast zwei, drei Fingerbreit. Von den Dachpfannen hingen an manchen Stellen lange Eiszapfen herab, ganz so, als habe der Winter beschlossen, das Kirchengelände für alle Ewigkeit einzufrieren.
    Mit einem raschen Wink zog Andreas seine Freunde hinter ein zugeschneites Auto und spähte noch einmal rüber zum Marktplatz, da er dort am ehesten mit Nachtschwärmern rechnete. Wie erwartet war ein Fenster oben im denkmalgeschützten Amtshaus des

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