Weisser Schrecken
zu. Die Kleidung ist nicht zerrissen, lässt sich aber aufgrund des gefrorenen Zustands schlecht entfernen … Ablederung der Haut durch zerrende, quetschende oder abscherende Kräfte, die vermutlich post mortem entstanden sind … Augen: Cornea durch Eintrocknung getrübt … Fast keine Spuren von Autolyse, Fäulnis und Verwesung, was mehr als erstaunlich ist … Soweit feststellbar, keine Hämatome. Auch keine Abwehrverletzungen an Händen und Armen … Die Tote wirkt wie tiefgekühlt, ohne aber, dass ihre Haut die für Gletschertote übliche Fettwachskonsistenz aufweist … Die Todesursache ist, solange sich das Mädchen noch im gefrorenem Zustand befindet, von meiner Seite aus nicht zu ermitteln … Nicht nur der Zustand des Mädchens, auch ihr Fund im Perchtensee bleibt im Moment absolut rätselhaft … Im Hintergrund war eine Stimme zu hören, woraufhin sich Doktor Bayer wieder zu Wort meldete. Oh, ich dachte, das hätte ich eingangs schon erwähnt. Ah, trotzdem scheint die Identität der Totenfestzustehen. Ein silbernes Schmuckband am rechten Handgelenk der Toten trägt den eingravierten Namen Anna. Dies und eine kaum zu übersehende Familienähnlichkeit mit ihren heutigen Schwestern lässt uns zu dem Schluss kommen, dass es sich bei der Toten um die seit Jahren vermisste Anna Bierbichler handelt. Ob dies der Wahrheit entspricht, muss eine Identifizierung durch die Eltern erbringen, was mir bei dem überraschenden Erhaltungszustand der Toten zumindest aussichtsreich erscheint.
Das Bandgerät lief noch eine Weile, doch es war nichts mehr zu hören. Robert schaltete es aus, und die beiden Freunde sahen sich an.
»Siehste, wusste ich doch, dass die uns was verheimlichen«, wisperte Andreas. »Elke und Miriam wird der Schlag treffen.«
»Moment mal«, meinte Robert. Er spulte das Band zurück und drückte wieder auf die Play-Taste: Dies und eine kaum zu übersehende Familienähnlichkeit mit ihren heutigen Schwestern lässt uns zu dem Schluss kommen … Er drückte auf Stopp. »Wieso ›heutige Schwestern‹? Ich meine, wenn das Drillinge sind, waren die schon immer Schwestern.«
»Stimmt …«, meinte Andreas nachdenklich. »Jetzt, wo du es sagst … Da war doch weiter vorn auch noch von dieser Aktenlage die Rede, als es um das Alter der Toten ging. Das war auch irgendwie merkwürdig. Spul noch mal ganz zurück.« Robert tat es und drückte wieder auf Play. Abermals erklang die Stimme des Arztes, doch bereits nach wenigen Sekunden wurde sie von einem Zischen überlagert, das in ein sphärisches Rauschen überging. »Was ist?«, fragte Andreas. »Hast du das Band kaputt gemacht?« »Quatsch, ich …« Leise Singstimmen tönten plötzlich aus dem Lautsprecher:
Lasst uns froh und munter sein, und uns recht von Herzen freu n! Lustig, lustig, trallerallera. Bald ist Nikolausabend da! Bald ist Nikolaus …
Mit einem Aufschrei ließ Robert das Diktaphon fallen. Das Gerät zerbarst am Boden in mehrere Einzelteile. Kreidebleich wich er zum Tisch zurück.
»Was ist denn?« Andreas sah seinen Freund bestürzt an.
»Das … So einen verdammten Kinderchor habe ich heute Morgen schon gehört. Im Fernseher. Nur war da …« In diesem Moment schlug etwas derart wuchtig gegen die Türen der Leichenhalle, dass selbst die Angeln erzitterten. Andreas zuckte zusammen, als unvermittelt seine Taschenlampe den Geist aufgab. Von einem Augenblick zum anderen waren sie von Finsternis umgeben. »Scheiße, was …? Niklas!?« Atemlos lauschte er dem Nachhall seiner Stimme. Doch Niklas antwortete nicht. Stattdessen rumpelte es neben ihnen im Sarg. In der Leichenhalle wurde es kälter, und dem Rumpeln folgte ein feines Klingeln. Irgendwo über ihnen. Erst leise, dann immer lauter. Die Totenglocke auf dem Dach schlug an.
Andreas und Robert begannen zu schreien.
Niklas stand mit in der Manteltasche vergrabenen Händen hinter der hohen Engelsstatue und sah unglücklich dabei zu, wie Andy und Robert drüben vor der Leichenhalle standen und mit einem Draht versuchten, das Schloss der Tür aufzubekommen. Wieso nur ließ er sich von ihnen immer wieder zu solchen Wahnsinntaten überreden? Wenn seine Eltern herausbekamen, wo er sich heute Nacht herumtrieb, würden sie ausrasten. Schon der Leichenfund hatte sie über die Maßen aufgeregt. Dabei war dies das Letzte, was er wollte. Wer wusste schon, wozu sich seine Mutter wieder hinreißen ließ?
Da ihn fröstelte, trat er im Schnee mehrfach auf der Stelle. Einen Moment lang hatte er den
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