Weisser Schrecken
gibt’s nicht. Hier ist eine Tür, die mit einer Tapete überklebt wurde.« Er konnte sogar die Ansätze eines Türrahmens fühlen. Aufgeregt drängten sich seine Freunde um ihn herum. Andreas kramte sein Taschenmesser hervor. »Soll ich?«
Elke nahm ihm das Messer kurzerhand ab und schnitt mit der Klinge in die Tapete, wobei sie den Konturen des Türrahmens folgte. Andreas tastete die Tapete weiter ab. Die Klinke war zwar abgeschraubt worden, doch auf Höhe der Tischkante fühlte er noch immer das Schloss. »Wir brauchen Werkzeuge.«
Elke lief nach unten, während er das Schlüsselloch sowie den Stutzen der ehemaligen Türklinke vorsichtig von der Tapete befreite. Kurz darauf kehrte Elke mit einem Werkzeugkasten aus der Küche zurück. Den Stutzen mit der Zange zu drehen war kein Problem, doch die geheimnisvolle Tür war abgeschlossen. Robert fischte den Dietrich von letzter Nacht aus der Manteltasche, als ihm Miriam zuvorkam. Sie hielt den Schlüssel zur Tür ihres Zimmers in der Hand. »Der passt auch bei den Türen unten. Probieren wir es mal.« Sie steckte ihn ins Schloss und drehte ihn um. Es schnappte.
Angespannt sahen sich die Freunde an. »Okay, schauen wir mal, was eure Eltern zu verbergen haben.« Andreas öffnete die Tür mit der Zange und drücke sie vorsichtig auf. In dem Raum dahinter war es stockfinster, und ihnen schlug kalte, abgestandene Luft entgegen. Andreas ließ die Taschenlampe ein weiteres Mal aufflammen und betrat den unbekannten Raum als Erster. Der Anblick traf ihn wie ein Schlag. Sie standen in einem komplett eingerichteten Jugendzimmer, das zwar etwas schmaler war als das Zimmer von Elke und Miriam nebenan, das aber auf unheimliche Weise so wirkte, als sei es jüngst noch bewohnt gewesen. Die Wände wurden von Regalen gesäumt, die mit Schmuckkästchen, Schminkdosen und Porzellanpuppen gefüllt waren, welche ihnen im Taschenlampenlicht auf unheimliche Weise zuzublinzeln schienen. Auf allem lag eine dünne graue Staubschicht, die auch die wellig von den Wänden hängenden Poster nicht verschont hatte. Andreas’ Lichtstrahl wanderte über die Konterfeis älterer Popstars wie die Bee Gees, Billy Joel und Rod Steward. Neben dem Kleiderschrank schälte sich sogar ein fast vollendeter BRAVO-Starschnitt von Status Quo aus dem Dunkeln.
»Mann, wie ein Mausoleum«, entfuhr es Robert. Gern hätte Andreas das Fenster aufgerissen, vor dem eine Vase mit völlig vertrockneten Blumen stand, doch hinter den fast blinden Scheiben türmte sich eine rote Ziegelwand auf. Die Bierbichlers hatten es von außen zugemauert. Am seltsamsten aber war, dass in dem Zimmer zwei gemachte Betten standen. Elke und Miriam drängten an ihnen vorbei und sahen sich fassungslos um. »Das gibt’s nicht. Das gibt’s einfach nicht«, keuchte Elke immerzu. Andreas und Robert zogen sich rücksichtsvoll zur Tür zurück und ließen die Zwillinge das Zimmer auf den Kopf stellen. Sie rissen die Schranktür auf, klaubten Kleider und Schuhe hervor, durchwühlten die Schubladen einer Kommode und langten ungläubig zwischen die Regale. Andreas wollte ihnen nun doch zu Hilfe eilen, als ihn Robert anstupste und ihn auf einen roten Plastikstiefel mit weißem Kunstfellbesatz aufmerksam machte, der auf dem Tisch unter dem Fenster stand. Ein Nikolausschuh aus dem Kaufhaus. Die Jungs nahmen ihn zur Hand und entdeckten darin uralte Pralinen.
Irgendwann ließ sich Elke erschöpft auf einem der Betten niedersinken. Sie hielt alten Schmuck in der Hand und starrte ihn an. Andreas setzte sich zu ihr und legte mitfühlend den Arm um sie.
»Andy, das ist zu viel.« Mit Tränen im Blick legte sie den Kopf an seine Schulter. »Das alles hier kommt mir vor, wie ein böser Traum.« Da Andreas nicht wusste, was er sagen sollte, schwieg er. Robert stand noch immer mit dem gefüllten Nikolausschuh nahe der Zimmertür, allein Miriam zeigte eine ungewohnte Entschlossenheit. Sie öffnete eine gelbe Schultasche und kippte den Inhalt auf dem anderen Bett aus. Alte Schulhefte kamen ebenso zum Vorschein, wie Stifte, Bücher, ein Box fürs Pausenbrot und drei ältere Ausgaben der BRAVO. Sie beäugte die Fundstücke und keuchte vor Überraschung auf.
»Elke«, sie drehte sich erschrocken um. »Wir hatten nicht nur eine Schwester. Wir hatten zwei.« Sie präsentierte ein Physiklehrbuch, in dessen Einband ›Gretl Bierbichler, Brennergasse 13, Perchtal‹ stand.
»Das ist es doch gerade«, schniefte Elke und löste sich widerwillig von Andreas. »Was
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