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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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Küchenschränke. Robert fühlte, nein, er wusste, dass sie hier irgendwo fündig werden würden. Denn im Schlafzimmer seiner Mutter hatte er bereits einen ersten vagen Hinweis auf seinen vermeintlichen Bruder entdeckt. Er hatte dort einen alten Koffer unter ihrem Bett gefunden, in dem zahlreiche ausrangierte Kleidungsstücke lagen, die zweifellos einem Jungen seiner Größe und Statur gehörten. Nur, dass sich Robert nicht daran erinnern konnte, die Sachen jemals getragen zu haben. Davon abgesehen waren die Hemden und Hosen völlig außer Mode. Er fragte sich, was Miriam und Elke zu dem Fund gesagt hätten? Leider hatten die beiden darauf bestanden, Niklas aufzusuchen, weil Elke von ihm mehr über die Geistererscheinungen auf dem Friedhof erfahren wollte. Immerhin, der Fund im Schlafzimmer hatte sie angespornt. Irgendwo in diesem verdammten Haus mussten doch noch persönlichere Gegenstände zu finden sein, sollte er tatsächlich je einen älteren Bruder gehabt haben. Zugleich schwelte in ihm eine Wut, wie er sie bislang nur Konrad gegenüber empfunden hatte. Er fühlte sich auf so unglaubliche Weise betrogen, dass er es kaum in Worte zu fassen vermochte. Seine eigene Mutter hatte ihm einen Bruder vorenthalten. Seine eigene Mutter! Das würde sie nie wieder gutmachen können. Sobald sie vom Putzen zurückkam, würde sie ihm einige unangenehme Fragen zu beantworten haben.
    Robert wollte schon aufgeben, als er oben auf dem Schrank einen alten Schuhkarton erblicke, der hinter einem staubigen Pappkasten mit Silberbesteck stand. Aufgeregt schob er die Pappschachtel beiseite, langte nach ihm und kletterte wieder nach unten. »Andy, komm mal her. Ich glaube, ich hab was gefunden!«
    Sein Freund eilte zurück ins Wohnzimmer, und gemeinsam starrten sie den Inhalt an. Im Karton lagen Zeugnisse und alte Schulhefte, die auf den Namen Stefan Kohlbrander ausgestellt waren, ein Schlüsselbund mit dem rotblauen Emblem des FC Bayern München, zwei Eintrittskarten für eines der Endspiele der Fußballweltmeisterschaft im Münchner Olympiastadion von 1974 sowie ausgeblichene Kinderzeichnungen, auf denen in krakeligen Schriftzügen Widmungen wie »Für Mama zum Muttertag!« oder »Alles Gute zum Geburtstag, Papi!« zu lesen waren. Doch am meisten beunruhigte Robert der große Haufen Fotos, die ganz unten lagen.
    »Scheiße, was ist denn mit denen passiert?«, wisperte Andy neben ihm. Robert kramte die Zeugnisse und Schulhefte aus dem Karton und legte sie achtlos auf den Tisch. Ebenso wie Andy nahm er einige der Schwarzweißaufnahmen zur Hand, auf denen Szenen aus glücklichen Tagen zu sehen waren: ein Jahrmarktsbesuch, Fotos aus einem Schwimmbad, Geburtstagsaufnahmen und Urlaubsbilder aus dem Süden. Vom Kleidungsstil der abgelichteten Personen her stammten die Lichtbilder zweifelsohne aus den Siebzigern oder frühen Achtzigern. Auch wenn Robert seinen Vater selbst nur von Fotos her kannte, entdeckte er seine Eltern auf vielen von ihnen wieder. Seine Mutter sah deutlich jünger und glücklicher aus. Keinesfalls so verhärmt wie heute. Regelrecht verstörend aber war der Junge, der im Mittelpunkt der Aufnahmen stand und bei dem es sich um seinen älteren Bruder handeln musste. Auf allen Fotos waren Körper und Gesicht fast bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt worden.
    »Ich check’s nicht!« Robert schüttelte den Kopf. »Fast so, als wollte meine Mutter die Erinnerung an meinen Bruder auslöschen.«
    »Ja, nur dass sie es dann doch irgendwie nicht übers Herz gebracht hat.«
    Eines der Schulhefte fiel vom Tisch auf den Boden. Robert wollte sich bereits einem anderen Foto zuwenden, als unvermittelt der Besteckkasten über die Kante des Wohnzimmerschrank kippte und seinen Inhalt um sie herum ergoss. Erschrocken sprangen die Jungen beiseite. Robert sah, dass sich eines der Messer fast zwei Zentimeter tief in das Schulheft am Boden gebohrt hatte. Teufel, das war ein einfaches Brotmesser! Beunruhigt sahen er und Andy zum Schrank auf und dann wieder zur Kladde am Boden. Schließlich bückte er sich und zog vorsichtig am Griff. Er hielt das Messer samt dem Heft in der Hand. ›Religion‹ stand auf dem Umschlag zu lesen.
    »Verdammt, sieh endlich nach, was drinsteht!«, zischte Andy mit bleichem Gesicht. Robert löste das Heft vom Messer und klappte es auf. Auf den durchlöcherten Seiten befand sich nur ein einziger Aufsatz. Robert las ihn vor:
    Der Weihnachtsmann und seine finsteren Gesellen Manche sagen, dass der Weihnachtsmann, so wie wir ihn

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