Weisser Schrecken
glaubst du wohl, warum hier zwei Betten stehen?« Sie hielt einen silbernen Delfinanhänger mit geschwungener Gravur auf der Rückseite empor, die sie leise vorlas: ›»Für Gretl zum 15. Geburtstag. Deine Schwester Anna‹«. Andreas nahm Elke das Schmuckstück mit einem mulmigen Gefühl aus der Hand und betrachtete es. Die Inschrift existierte tatsächlich.
»Also, zwei Schwestern …«, stammelte Miriam fassungslos. »Nicht eine, sondern gleich zwei. Ich … ich kann das einfach nicht glauben.« Sichtlich bestürzt ließ sie sich auf die Bettkante sinken. »Wie konnten Vater und Mutter uns all die Jahre über nur im Glauben lassen, es gäbe bloß uns beide?« Mit wachsender Wut sah sie Elke an. »Das ist doch auch unsere Familie. Das geht uns doch ebenfalls etwas an. Mann, die haben uns all die Jahre über direkt neben diesem Zimmer einquartiert, und wir beide waren so bescheuert, nicht einmal etwas zu bemerken.«
»Eure Eltern gehören in die Klapse, so viel ist klar!«, meinte Robert leise.
Elke schwieg. Unvermittelt bückte sie sich, spähte unter die Betten und zog eine weitere Schultasche hervor. So, wie es Miriam vorgemacht hatte, schüttete sie diese am Boden aus. Der Inhalt war fast identisch. »Scheint so, als wären die beiden in Berchtesgaden auf die Schule gegangen«, flüsterte sie. Sie fischte ein Poesiealbum vom Boden auf und blätterte konsterniert die Seiten durch. »Mein Gott, was ist das denn?« Kreidebleich sah sie zu ihren Freunden auf.
»Ein Posesiealbum, oder nicht?«, antwortete Robert.
»Ja, aber …« Elke blätterte immer wieder vor und zurück. »Die Einträge hier drin. Seht euch die bitte mal an.« Sie hielt den Jungs das Büchlein so hin, dass diese sich die Sprüche ansehen konnten:
Wenn Berg und Tal uns trennen und wir uns kaum noch kennen, dann denk zurück an dieses Blatt und wer’s für Dich beschrieben hat.
Entgeistert starrte Andreas die Unterschrift an: Michael Meyenberg, Ihr wisst schon, der coolste Typ in ganz Perchtal. Er nahm Elke das Poesiealbum aus der Hand und blätterte vor:
Als Freunde lernten wir uns kennen, als Freunde werden wir uns trennen, als Freunde auseinandergehn, als Freunde uns bald wieder seh’n!
Diesmal war es Robert, der einen überraschten Laut von sich gab, denn diese Zeilen waren mit Stefan Kohlbrander unterzeichnet. Und noch ein weiterer Junge hatte sich mit einem Spruch verewigt:
Es ist schlimm, erst dann zu merken, dass man keine Freunde hat, wenn man wirklich Freunde nötig hat. (Plutarch)
Unterzeichnet war der Sinnspruch mit Jonas Eichelhuber.
Andreas ließ das Album sinken. »Das ist jetzt ein schlechter Scherz, oder?«
Robert nahm ihm das Poesiealbum aus den Händen und blätterte wieder zurück.
»Hin und wieder, also wenn meine Mutter, na ja, nicht ganz bei sich ist, dann …« Er räusperte sich. »Also, dann spricht sie mich manchmal mit Stefan an.«
Andreas sprang auf. »Du willst doch jetzt nicht behaupten, dass wir ebenfalls Brüder hatten?« Niemand im Raum sagte etwas. »Mann, Leute, die werden uns doch nicht alle auf die gleiche Weise verarscht haben?«
»Kennst du hier im Ort noch andere Meyenbergs, Kohlbranders oder Eichelhubers?«, fragte Elke ausdruckslos.
Andreas wusste nicht, was er antworten sollte. Er griff sich stattdessen die jüngste Ausgabe der alten BRAVOs, die drüben auf dem Bett lagen, und besah sich das Cover, auf dem Elvis in einem weißen Anzug zu sehen war. »Die ist vom 30. November 1978. Und die anderen beiden Ausgaben stammen aus den beiden Vormonaten. Ich schätze mal, damit wissen wir ungefähr, wann eure Eltern die Bude hier dicht gemacht haben!«
Perchta
»Sieh auch drüben in der Küche nach!« Robert stand auf der obersten Sprosse einer Haushaltsleiter und räumte den heimischen Wohnzimmerschrank aus. Ohne Rücksicht auf die Habseligkeiten seiner Mutter zu nehmen, warf er Tischdecken, Bücher und andere Fundsachen auf den Boden. Darunter befand sich auch eine alte Fotokamera, die angeblich mal seinem Vater gehört hatte. Im Zimmer sah es inzwischen so aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. Alles war übersät mit Fundstücken. Leere Schubladen hingen schräg aus den Kommoden, der Teppich lehnte aufgerollt gegen das abgerückte Sofa, die Glasvitrine war ausgeräumt, sie hatten sogar den an das Haus grenzenden Hinterhof abgesucht. Erfolglos. Andy, der den Fußboden des Zimmers eben noch nach Hohlräumen abgeklopft hatte, stiefelte rüber in die Küche und begann mit der Inspektion der
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