Weisser Schrecken
entstammen sie dem keltischen Erbe unserer Vorfahren. Dem Buch hier ist zu entnehmen, dass hinter Krampus-, Perchten- und Buttnmandellauf ursprünglich ein alter Fruchtbarkeitskult steckt. Mit ›Buttn‹ ist offenbar so eine Art Kessel der Fruchtbarkeit und Wiedergeburt gemeint gewesen. Vor allem aber ist das ein umgangssprachlicher Begriff für Hoden.« Robert feixte. »Und so was lassen sie auf uns Kinder los.« Auch Andreas musste grinsen. »Der ganze Rummel um den Brauch der Perchten- und Krampusläufe bis runter nach Österreich dient angeblich dazu, den Winter auszutreiben«, las Robert weiter vor. »Wusstest du das? Es gibt offenbar zwei Gruppen von Perchten: Schönperchten und Schiechperchten. Also gute und böse Perchten.«
»Was sind diese Perchten denn jetzt: Teufel und Engel?«, fragte Andreas.
»Mann, ich lese bloß vor, was hier steht. Offenbar beides. Der Name leitet sich wohl von Frau Perchta ab, eine unheimliche Sagengestalt, die Parallelen mit der germanischen Göttin Frigg aufweist, auch wenn da wohl noch keltische Elemente mit eingeflossen sind.« Robert verstummte und überflog die Seiten weiter. »Angeblich ist sie die Gattin Wotans und war für das Weben der Wolken zuständig. Und ihre Lieblingszeit ist der Winter.« Robert tippte auf eine bestimmte Stelle. »Unglaublich, wusstest du, dass sogar Frau Holle von dieser Perchta oder dieser Frigg abstammen soll? Du weißt schon, die aus dem Märchen, die ihre Federbetten schüttelt, damit es auf der Erde schneit.«
»Bin ja nicht bescheuert«, antwortete Andreas gereizt.
»Hier steht auch, dass sich noch heute mancher Ortsname von dieser Perchta ableitet. Berchtesgaden zum Beispiel bedeutet ›Garten der Perchta‹. Und auch Perchtal!«
Blei & Glas
Es schneite; der wolkenbedeckte Himmel über den Bergen hatte die Farbe alter Knochen angenommen. Niklas stand mit dem Schulranzen auf dem Rücken hinter der Friedhofsumzäunung und starrte, eine Semmel kauend, zur Kirche Perchtals hinüber. Er bibberte vor Kälte und Müdigkeit, da er in der Nacht fast kein Auge zubekommen hatte. Wenn nur endlich der Gottesdienst in der Kirche ein Ende finden würde, damit er ohne gesehen zu werden noch einmal zur Leichenhalle gehen konnte. Dass er überhaupt den Mut dazu fand, machte ihn ziemlich stolz. Über zwei Stunden hatte er nahezu allein in der kleinen Busstation am Ortsrand ausgeharrt, bis sich endlich ein Erwachsener bequemt hatte, ihm mitzuteilen, dass der Schulbus nicht fuhr. Nur gut, dass ihn Konrad und seine Freunde dort nicht allein angetroffen hatten. So wie letzte Woche hätten sie ihn wahrscheinlich mit Schnee abgeseift oder ihn gezwungen, Dreck zu fressen. Dass er mal wieder als Letzter mitbekommen hatte, was offenbar jedem im Ort klar war, das kannte er schon. Doch dass er nicht früher stutzig geworden war, schrieb er dem Umstand zu, dass er die Zeit in der Busstation mit Nachdenken verbracht hatte. Und wenn er nachdachte, dann versank die Welt um ihn herum. Eines war ihm dadurch klar geworden: Das, was gestern geschehen war, war auf normale Weise nicht zu erklären! Schon gar nicht diese Geister, die er zwischen den Gräbern gesehen hatte. Dass es sich bei den Erscheinungen wirklich um Geister gehandelt hatte, davon war Niklas inzwischen überzeugt. Allein die Erinnerung an die unheimlichen Schemen ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.
Was Elke wohl sagen würden, wenn sie erfuhr, dass er trotzdem noch einmal hergekommen war? Zumindest hoffte er, dass sie ihn nicht als Spinner abstempelte, wenn er ihr von der letzten Nacht erzählte. Aber er hatte ja Zeugen. Andy und Robert hatten in der Leichenhalle ebenfalls Unheimliches erlebt. Zumindest hatte niemand von ihnen eine Erklärung dafür gehabt, warum diese Glocke oben auf der Leichenhalle plötzlich angefangen hatte zu bimmeln. Wenn es gestern aber wirklich gespukt hatte, dann musste es dafür eine Erklärung geben. Eine Erklärung, die bestimmt hier auf diesem verdammten Friedhof zu finden war. Da er seiner Mutter nicht über den Weg laufen wollte, war er von der Busstation aus direkt zum Sägewerk marschiert, um Andy zu suchen. Doch Andy und Robert waren bereits fort gewesen, ohne dass einer ihm sagen konnte, wohin. Er musste die Sache also allein angehen. Niklas biss gerade in das letzte seiner Pausenbrote, als sich die Tür zum Hauptschiff öffnete und fast zwei Dutzend Perchtaler auf den Vorplatz der Kirche strömten. Endlich. Es waren mehr Männer und Frauen an diesem
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