Weisser Schrecken
Morgen in der Kirche, als er gedacht hatte. Ein Umstand, den Niklas der Tatsache zuschrieb, dass viele Berufstätige in Perchtal heute nicht zur Arbeit fahren konnten. Er hielt mit dem Kauen inne, als er überraschend seinen Vater unter den Kirchenbesuchern entdeckte. Er war auf traditionelle Weise mit Gamsbart, Trachtenhemd, Joppe und halboffenem grünen Wintermantel bekleidet. Ebenso wie Niklas war er von untersetzter Statur und hatte auch die gleichen großen Ohren, dafür hatte er selbst als Bäckermeister nicht einmal einen Bauchansatz. Berufsbedingt war sein Vater natürlich schon seit halb vier Uhr heute morgen auf den Beinen, er blieb dann aber stets bis zur Mittagszeit in der Bäckerei. Ein Kirchenbesuch am Montagvormittag war für ihn absolut ungewöhnlich. Niklas überlegte gerade, ob er sich seinem Vater nicht doch einfach zu erkennen geben sollte, um ihn zum Mittagessen nach Hause zu begleiten, als unvermittelt Elkes und Miriams Eltern an dessen Seite traten. Frau Bierbichler sah verheult aus. Offenbar wussten die Bierbichlers inzwischen, wen man aus dem See gezogen hatte. Wusste sein eigener Vater ebenfalls davon? Wahrscheinlich, denn er legte Frau Bierbichler soeben beruhigend die Hand auf die Schulter, doch Elkes und Miriams Mutter schüttelte sie ab. Einer Eingebung folgend, zog sich Niklas in den Schatten eines der kahlen Bäume hinter dem Friedhofszaun zurück. In diesem Augenblick trat auch Pfarrer Strobel vor das Kirchenportal. Er verabschiedete eine ältere Frau, doch kaum dass diese den Vorplatz überquert hatte, erlosch alle Güte in seinem Gesicht, und er eilte hinüber zu den drei Erwachsenen.
»Wir haben unser Soll erfüllt. Mehr als erfüllt!«, schrie Frau Bierbichler plötzlich los. Jäh packte sie ihr Mann und schüttelte sie, ohne dass der Pfarrer oder sein Vater dazwischen gingen. Frau Bierbichler riss sich los und rannte davon. Auf einen Wink des Pfarrers hin folgte ihr der alte Bierbichler, während sein Vater dem Pärchen unheilvoll hinterherblickte. Was ging da hinten vor sich? Vor Aufregung vergaß Niklas sogar zu schlucken. Sein Vater und Strobel unterhielten sich noch eine Weile, dann lüpfte Ersterer den Gamsbart und stiefelte zurück in Richtung Bäckerei, während Strobel zum Pfarramtsgebäude ging.
»Was machst du hier allein?«, erklang hinter Niklas die Stimme Elkes, kaum dass der Pfarrer die Tür hinter sich zugezogen hatte. Der fuhr herum und starrte überrumpelt die blonden Zwillinge an, die mit ihren blauen Mützen, Schals und Jacken mal wieder zum Verwechseln ähnlich aussahen.
»Ich? Wo kommt ihr denn plötzlich her?«
»Wir suchen dich schon eine Weile«, meinte Miriam ernst. »Deine Mutter meinte, du seiest heute wie immer aus dem Haus gegangen. Wir haben uns schon Sorgen gemacht, weil der Bus doch gar nicht fährt.«
»Ja, das hab ich auch irgendwann gemerkt.« Niklas lief rot an. »Wisst ihr eigentlich, was Andy, Robert und ich gestern Nacht erlebt haben? Wir waren …«
»Ja, wissen wir«, stoppte Elke seinen Redefluss. »Die beiden waren schon bei uns.« Niklas ließ enttäuscht sein halb gegessenes Brot sinken. »Haben sie euch auch erzählt, dass es auf dem Friedhof gespukt hat?«
»Das ist ja einer der Gründe, warum wir dich gesucht haben.« Elke sah sich misstrauisch um und berichtete ihm dann detailliert von den Entdeckungen, die sie im elterlichen Haus gemacht hatten. »Was!?« Niklas gab einen keuchenden Laut von sich. »Ihr meint, wir haben … hatten … ebenfalls Geschwister? Ich hatte … einen Bruder?«
»Also weißt du auch von nichts?«, meinte Miriam enttäuscht.
»Nein. Meine Eltern haben mir das ebenfalls verschwiegen.« Das Brot fiel ihm aus den Händen, und Niklas musste sich am Zaun festhalten, weil ihm schwindlig wurde. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit so etwas.
»Andy und Robert sind gerade dabei, bei sich zu Hause nachzuforschen, ob sie mehr über Michael und Stefan herausfinden«, erklärte Elke. »Das solltest du im Fall von diesem Jonas ebenfalls tun!«
»Ja, sollte ich …« Meine Güte, er hatte einen Bruder. Niklas konnte das immer noch nicht glauben.
»Aber das ist noch lange nicht alles«, wechselte Elke das Thema. »Ich glaube, ich habe auch solche Erscheinungen wie du gesehen!« Aufgewühlt berichtete sie von ihren gestrigen Erlebnissen auf dem See. Niklas lauschte und putzte sich aufgeregt die Brille. Dass es ausgerechnet Elke war, die ebenfalls so etwas Unheimliches erlebt hatte wie er, bewirkte, dass
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