Weisser Schrecken
er ruhiger wurde. Nur er und sie. Nicht die anderen.
»Vielleicht wollen diese Geister was von uns beiden?«
»Von uns? Und was?«
»Weiß nicht. Aber deswegen bin ich ja hier.« Niklas deutete rüber zum Friedhof. »Ich dachte mir, dass es nicht schaden könnte, mal zu schauen, wer dort hinten in der Nähe der Leichenhalle eigentlich begraben liegt.«
Elke und Miriam warfen ihm anerkennende Blicke zu. »Du meinst, diese Geister stammen vielleicht von Toten, die hier bestattet wurden? Die Idee ist nicht schlecht.«
Niklas lief rot an und unterdrückte den Zwang, nach dem Schokoriegel in seiner Jackentasche zu greifen. »Da ist übrigens noch was.« Eifrig berichtete er den Mädchen von seiner Beobachtung eben vor der Kirche.
»Was mag Mutter damit gemeint haben, dass sie ihr Soll erfüllt hat?« Miriam sah ihre Zwillingsschwester fragend an.
»Keine Ahnung«, antwortete diese. »Aber das bestärkt mich nur noch mehr in dem Eindruck, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Komm, Niklas, zeig uns die Stelle, wo ihr gestern wart.«
Niklas spähte noch einmal zum Pfarrhaus hinüber und führte die Mädchen dann durch das halbrunde Friedhofstor und an der hohen Kirche vorbei zur alten Leichenhalle. Ihm wurde nun doch wieder mulmig zumute, doch immerhin war die Leichenhalle jetzt wieder versprerrt. Elke hielt Miriam an der Jacke fest und betrachtete den gedrungenen Bau unglücklich. »Andy meinte, unsere Schwester Anna sähe aus wie eine Eisprinzessin.«
»Ihr wollt euch die Tote doch nicht etwa ansehen, oder?«, fragte Niklas alarmiert. Elke und Miriam zögerten. »Das Merkwürdige ist doch«, versuchte Niklas sie abzulenken, »dass ihr Körper heute noch so gut erhalten ist. Ich meine, wenn es stimmt, dass Anna schon seit 1978 vermisst wird, ist das doch eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.«
»Wir vermuten, dass sie ’78 verschwunden ist. Aber eine richtige Bestätigung dafür haben wir noch nicht«, korrigierte ihn Miriam. »Trotzdem«, ereiferte sich Niklas weiter, »wäre sie erst kürzlich gestorben, dann müsste sie heute erwachsen sein.« Die Schwestern verzichteten auf eine Antwort, und so stapfte Niklas rasch zu der Engelsstatue und wandte sich dem Gräberfeld zu. Die Grabsteine und Kreuze ragten aus dem dichten Schnee in vielerlei Form und Größe. Die Kreuze aus Holz oder Metall, die Kerzen und der Blumenschmuck, sie alle waren vollständig von klirrendem Frost bedeckt.
»Was hast du vor?«, flüsterte Miriam und wischte sich ein paar Schneeflocken aus den Haaren.
»Ich versuche mich daran zu erinnern, wo die Geister aufgetaucht sind.«
Miriam schlang sich fröstelnd die Arme um den Oberkörper und sah sich verunsichert um. »Vielleicht sollten wir das doch lieber lassen?«
»Kommt nicht infrage!«, herrschte Elke ihre Schwester an. »Los Niklas, sag schon, wo.« Niklas versuchte sich zu konzentrieren. Doch er war viel zu aufgeregt, als dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Um sich keine Blöße zu geben, deutete er ungefähr in die Richtung, die er in Erinnerung hatte.
»Da drüben. Ich bin mir sicher.« Gemeinsam mit den Zwillingen stapfte er durch den Schnee zum älteren Teil des Friedhofs, wie man leicht an den vielen eingesunkenen und schief stehenden Grabsteinen sehen konnte. Elke befreite einige der alten Steine von ihren weißen Hauben. »Und welche genau?«
»Na ja.« Niklas sah sich um. »Ehrlich gesagt war es gestern ganz schön dunkel. Und es hat ziemlich stark geschneit.« Elke und Miriam seufzten. Die beiden schritten nun aufmerksam die Grabreihen ab, als Elke unvermittelt innehielt. Sie eilte den Weg zurück, besah sich jeden der Grabsteine noch einmal genauer und winkte die anderen beiden herbei.
»Seht doch: Hier liegen ausschließlich Kinder!« Erstaunt traten Niklas und Miriam an ihre Seite und besahen sich die zum Teil bis zur Unleserlichkeit verwitterten Inschriften.
»Requiescat in pace. Xaver Koerber. 1691-1706«, las Niklas mühsam vor. »Das bedeutet soviel wie: Ruhe in Frieden. Xaver Koerber. 1691 bis 1706.«
»Den Namen und die Zahlen kann ich auch lesen«, meinte Elke gereizt. Die drei Freunde traten vor das Nachbargrab, und Niklas übersetzte abermals. »Anton Mueller. Acceptus est apud Deum. 1708 -1722. Ich glaube, das heißt: Er wurde von Gott angenommen.« So ging es weiter. In kürzester Zeit spürten die drei gleich sieben nebeneinander liegende Gräber aus dem Zeitraum zwischen Mitte des 17. bis Mitte des 18. Jahrhunderts auf, in denen
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