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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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nicht, wie sie mit einem solchen Schicksalsschlag umgehen sollen. Ich riet ihnen daher, damit zu warten, bis ihr alt genug seid, ohne dass wir darüber sprachen, wann dieses Alter erreicht sei.«
    »Aber was ist denn überhaupt mit Anna passiert?«, platzte es aus Miriam heraus.
    »Das wissen wir nicht, meine Liebe.« Strobel hob demutsvoll die Hände. »Eure Schwester ist eines Tages verschwunden. Bis gestern wussten wir nicht einmal, ob sie wirklich gestorben war. Eine Entführung? Ein Unfall? Eure Eltern mutmaßten damals sogar, dass sie fortgelaufen war. Dabei waren sie ihr stets in zärtlicher Liebe zugetan. Eine Torheit, die Teenager leider immer wieder begehen. Doch wie heißt es so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Er lächelte väterlich, aber in seinen Augen lag ein harter Zug. »Eure Eltern haben nie die Hoffnung aufgegeben, dass eure Schwester eines Tages wieder wohlbehalten nach Hause zurückkehren würde. Vielleicht war auch das ein Grund dafür, dass sie … Anna … nie mit einem Wort erwähnt haben.«
    Elke wäre am liebsten aufgesprungen und hätte auf den verlogenen Pfaffen eingeschlagen.
    »Und wieso hat man sie gestern in einem so gut erhaltenen Zustand gefunden?«, fragte Niklas.
    »Das, mein Junge, ist auch uns bislang ein Rätsel. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass Elkes und Miriams Schwester damals hoch oben in den Bergen einen Unfall hatte. Wie ihr wisst, gibt es dort Regionen, die unter ewigen Eis begraben liegen. Gerade letzte Woche noch habe ich mit dem Bürgermeister darüber gesprochen, dass die Klimaerwärmung auch hier bei uns spürbar wird. Manche der Alpengletscher beginnen zu schmelzen. Das betrifft nicht nur den Tourismus, sondern es tritt nun auch manch anderes ans Tageslicht.« Er rieb sich mit den Spitzen von Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel, so als müsse er in sich gehen. »Vielleicht sollten wir dem Herrgott einfach dankbar dafür sein, dass er den Leichnam wieder freigegeben hat? Die Zeit der quälenden Ungewissheit hat damit immerhin ein Ende gefunden.«
    »Ja, vielleicht sollten wir das.« Elke senkte in gespielter Demut das Haupt, damit Strobel ihre Wut nicht bemerkte.
    »Nun, morgen am Nikolaustag, wenn wir unsere Nachtwanderung machen, dann werde ich euch mehr über Anna erzählen. Sie liebte den Chor ebenso wie ihr. Und sie war eine begeisterte Naturfreundin. Die Mädchen haben dich doch sicher schon über unseren geplanten Ausflug informiert, oder?« Strobel richtete sein Augenmerk auf Niklas. Der leckte sich unruhig über die Lippen.
    »Äh, ja. Elke und Miriam haben so was erwähnt.«
    »Sehr schön, mein Lieber. Auch mit deinem Vater habe ich bereits gesprochen. Du darfst dich freuen, du hast seine Einwilligung. Wir werden singen und des heiligen Nikolaus gedenken, der euch Kinder so liebte.« Elke sah Niklas an, dass er sich alles andere als freute. Die Stimme des Pfarrers nahm einen lauernden Unterton an. »Andreas und Robert sind ebenfalls dabei?«
    »Ja, sie kommen«, antwortete Elke rasch. Strobel wirkte überaus zufrieden.
    Es war alles gesagt. Elke wollte sich erheben, aber der Pfarrer drückte sie wieder zurück auf die Bank. »Aber nicht doch. Ihr drei solltet noch ein wenig verweilen, in euch gehen und beten. Die ganze Angelegenheit muss euch doch fürchterlich aufgeregt haben. Übrigens bin ich mir sicher, dass ich hinten noch etwas von eurer Schwester habe. Ich erwähnte ja bereits, dass sie eine begeisterte Chorgängerin war. Wartet hier!« Strobel lächelte und eilte durch das hallende Kirchenschiff nach vorn in Richtung Altar, wo er durch eine Tür verschwand.
    »Ob der wirklich was von Anna hat?«, flüsterte Miriam.
    »Als ob das nach der Entdeckung des Zimmers noch von Interesse wäre«, schimpfte Elke leise. »Der lügt doch schon die ganze Zeit wie gedruckt. Ich wette, der ruft jetzt schnell bei uns zu Hause an und informiert Vater und Mutter, dass wir über Anna Bescheid wissen. Ich sag dir, die verheimlichen uns etwas. Und nicht nur die, auch deine Eltern!« Elke fasste nach Niklas’ Ärmel. Doch ihr dicker Freund erhob sich unwillkürlich und sah zu den mit roten, blauen und türkisfarbenen Bleigläsern verzierten Fenstern der Kirchenhalle auf.
    »Seht doch«, keuchte er und deutete hinauf zu den mittelalterlichen Motiven. Elke folgte seinem Blick. Ebenso wie ihre Schwester hatte sie die Kirchenfenster schon so oft in ihrem Leben betrachtet, dass sie diese längst nicht mehr beachtete. Links vom Eingang war Sankt Georg zu

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