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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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sehen, wie er den Drachen bezwang. Direkt gegenüber hatte der unbekannte Künstler den Erzengel Michael dargestellt, der den rebellischen Luzifer niederstreckte, ebenfalls in Drachengestalt. Die anderen Kirchenfenster stellten die berühmten Taten des Namenspatrons der Kirche da, wie sie die Legenden überlieferten.
    »Und?«, fragte Miriam achselzuckend. »Da oben ist der heilige Nikolaus von Myra als Bischof abgebildet. Kennst du seine Heiligentaten nicht?« Sie wies auf eines der vielen Fenster. »Siehst du: Auf dem Fenster dort überreicht er einem Vater drei Goldkugeln, damit dieser seine drei Töchter nicht der Prostitution ausliefern muss.«
    »Schon klar«, kommentierte Elke trocken. »War bestimmt ein echt toller Vater.«
    Doch Miriam ließ sich von ihrer Schwester nicht aus dem Konzept bringen. »Und da hinten sehen wir ihn, wie er ein in Seenot geratenes Schiff vor dem Untergang bewahrt. Schaut nur, wie er mit hoch erhobenem Hirtenstab den Sturm beruhigt. Ganz schön unheimlich. Und da hinten ist er zu sehen, wie er drei junge Scholaren errettet, die von einem hinterhältigen Schlachter in ein Pökelfass gesteckt wurden. Dieser Arsch wollte die drei doch tatsächlich zu Wurst verarbeiten. Das ist übrigens einer der drei Gründe, warum der heilige Nikolaus bis heute als Schutzpatron der Kinder gilt«, belehrte sie ihre Freunde. »Da gibt es nämlich noch zwei weitere Erweckungslegenden. Zum einen die von dem Jungen, der von seinem Vater ermordet wurde, und dann noch die von dem Sohn des Pilgers, der auf dem Seeweg nach Myra ertrank.« Zielsicher wies sie zu den entsprechenden Glasabbildungen.
    »Das alles ist mir längst bekannt«, sagte Niklas gequält. »Nein, ich meine was anderes. Seht euch doch mal die Abbildungen des heiligen Nikolaus von Myra genauer an. Das Gesicht, die Größe und die Hände. Lasst euch nicht von der Mitra und dem Bischofsgewand täuschen. Auf den Fenstern ist kein Erwachsener abgebildet. Die Bischofsgestalten da oben, das sind alles Kinder!«

Kriegsrat
    »Das kann doch alles nicht wahr sein.« Andreas schlug den Kragen seiner Jacke hoch und sog die würzige, nach Tannennadeln, Schnee und altem Laub riechende Waldluft ein, um den Kopf frei zu bekommen. Doch das unheilvolle Gefühl wollte nicht weichen. Dass es den anderen nicht viel anders erging, sah er an ihren niedergeschlagenen Mienen. Seine Freunde hockten auf Kisten und Rucksäcken in ihrem Baumhaus, und auch sie hatten sichtlich Probleme damit, das eben Gehörte zu verdauen. Dass sie sich trotz des unaufhörlichen Schneefalls an diesem ungastlichen Ort versammelt hatten, lag an der Furcht Elkes und Miriams, dass man sie mit ihnen zusammen sehen könnte. Tatsächlich wäre ihr geballter Aufmarsch im Sägewerk bei den vielen Arbeitern nicht unbemerkt geblieben. Bei Niklas zu Hause hingegen wartete dessen Mutter, und nur zwei Häuser neben Roberts Heim wohnte eine ziemlich neugierige Bekannte der Bierbichlers, der sie erst recht nicht über den Weg laufen wollten.
    Obwohl die brusthohen Wände der Baumhütte einigermaßen vor dem Wind schützten und ihr Treffpunkt sogar über ein Dach verfügte, war es im Innern recht kalt. Daran änderte auch die Thermoskanne mit heißem Tee nicht, die sie mitgebracht hatten. Andreas, Robert und Niklas hatten das Baumhaus bereits letztes Jahr gebaut. Als Standort hatten sie eine alte Eiche mit ausladenden Ästen gewählt, die einen guten Kilometer tief im Wald lag, gerade so weit, dass es nicht allzu schwierig gewesen war, das Bauholz vom Sägewerk heranzuschaffen. Die schneebedeckten Bäume um sie herum verhinderten, dass man den Treffpunkt von Perchtal aus sehen konnte. Und das sogar heute, da selbst die Tannen ihre Äste unter der weißen Last bis zum Boden hinab gesenkt hatten. Sie selbst konnten die Dächer Perchtals und den schlanken Kirchturm von ihrem erhöhten Standpunkt sehr wohl ausmachen.
    »Doch, ist es aber!« Elke warf wütend ein schlichtes Gesangsbuch auf den Bretterboden, von dem Pfarrer Strobl behauptet hatte, dass es ihrer Schwester Anna gehört habe. »Und das schlimmste ist, dass ständig neue Ungereimtheiten ans Tageslicht treten. So, als hätte sich ganz Perchtal gegen uns verschworen. Irgendetwas ist hier doch faul. Und zwar so richtig.«
    »Ja, so weit bin ich auch schon.« Andreas seufzte. »Wobei wir leider noch nichts über diesen Jonas Eichelhuber wissen.« Er musterte Niklas, der unglücklich auf seiner Schultasche saß und ihn durch die dicken Gläser seiner

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