Weisser Schrecken
geradeheraus, »weil wir Sie fragen wollen, ob Sie vielleicht etwas über das Verschwinden unserer Geschwister vor einigen Jahren wissen.«
Die getrübten Augen des alten Hoeflingers weiteten sich, und er bedeutete ihnen erschrocken, still zu sein. Mit knackenden Gliedern erhob er sich und schlurfte zur Wohnzimmertür. »Ah, ihr interessiert euch also für die alten Sportvereine hier in Perchtal!«, krähte er mit lauter Stimme in Richtung Flur. »Ja, wir hatten hier mal einen Ruderclub. Ist aber schon lange her.« Ächzend räumte er eine weitere Jutetasche aus dem Weg und zog die Tür zu. »Leise, Kinder. Leise! Hier haben die Wände Ohren. Und jetzt sagt mir, wer euch wirklich geschickt hat?«
»Niemand«, antwortete Andreas stirnrunzelnd. »Wir sind aus eigenem Antrieb hier.«
»Soso«, der Alte leckte sich über die spröden Lippen. »Und wer seid ihr?«
Andreas erklärte es ihm.
»Sieh an!« Der Greis lachte auf verstörende Weise. »Natürlich, natürlich. Die Zeit ist um. Morgen ist Nikolaus. Da geht es wieder los.«
»Was geht los?«, fragte Elke beunruhigt.
»Dann werden sie wieder verschwinden«, krächzte der alte Hoeflinger. »Jung und unschuldig, wie sie sind.«
»Wer wird verschwinden?«, fragte Andreas nervös.
»Kinder! Kinder werden verschwinden«, flüsterte ihr Gegenüber unheilvoll. »Und sie alle hängen da mit drin. Jeder Einzelne hier in Perchtal, sogar meine verlogene Tochter. Auch wenn die so tun, als wüssten sie von nichts.« Die Deckenlampe flackerte unruhig, und der alte Hoeflinger schniefte. »Dieser ganze Ort ist eine einzige Jauchegrube, der seine Jüngsten auf Nimmerwiedersehen verschluckt. So wie ein Hecht kleine Fische.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Andreas, während Elke verunsichert nach seiner Hand griff.
»Du hältst mich für einen Spinner, Bub?« Der alte Mann schnaubte spöttisch und deutete mit dem Stock in Richtung der Regale und Kartons. »Sieht das hier so aus, als sammelte ich all diese Dinge zu meinem Vergnügen? Nein!« Er schüttelte den Kopf. »Ich recherchiere. Diese Räumlichkeiten sind ein einziges großes Archiv gegen das Vergessen.«
Andreas ließ den Blick über die vielen Gegenstände im Raum schweifen. Sie unterschieden sich nicht viel von denen, die er bereits draußen im Flur entdeckt hatte. Da vorn neben der Tür lehnte sogar eine rote Kindertrompete, wie er selbst sie einmal besessen hatte. Moment mal. Eines fiel ihm nun doch auf. All die Dinge hier oben hatten einst Jugendlichen gehört …
»Wozu sammeln Sie all das?«
»Um das Muster herauszufinden«, hechelte der Alte. »Das, nach dem sie ausgesucht werden. Denn der Ort wird immer gieriger. Letztes Mal waren es fünf auf einmal.«
»Letztes Mal? Das heißt, Sie kannten unsere Geschwister?« Elke schlug die Hand vor den Mund.
»Nein, nicht wirklich. Aber ich habe die Sache verfolgt. Das tue ich noch immer.« Er humpelte zu einem Regal und langte nach einem bunten Bademodenkatalog, der zwischen all den anderen Sachen kaum auffiel. »Eure Geschwister sind im Dezember 1978 verschwunden. Genau so, wie ich es erwartet hatte. Na ja, nicht ganz genau so, aber ich hatte damit gerechnet.«
»Wieso?«
»Hier steht alles drin.« Der Alte hob triumphierend den Katalog hoch und klopfte auf den Umschlag, auf dem ihnen eine hübsche Brünette im Bikini entgegenlächelte. »Ich war früher bei der Polizei. Erst in Berchtesgaden, später in Bad Reichenhall. Gleich nach dem Krieg. Im Dezember 1946 vertraute man mir einen Vermisstenfall an. Fritz Wagner. 13 Jahre alt. Wohnhaft hier in Perchtal. Er war der Sohn eines der hiesigen Holzfäller. Er verschwand nachmittags beim Spielen. Alles, was wir im Wald von ihm fanden, war sein Schlitten. Aber ich hab gleich gespürt, dass der sich nicht einfach verlaufen hatte, denn in der Nähe haben wir die Fußspuren von Erwachsenen gefunden. Nur waren die großteils unter Neuschnee verborgen. Aber unsere Hundestaffel konnte sie weiter verfolgen.«
»Und?«
Der alte Hoeflinger hob mahnend den Finger. »Die Hunde führten uns zur Kirche hier im Ort. Aber Pfarrer Strobel wusste angeblich von nichts. Weder er noch der Bürgermeister waren uns damals eine große Hilfe.«
»Wie bitte, Strobel war schon 1946 bei uns im Ort Pfarrer?«
»Nein, aber sein älterer Bruder. Unser jetziger Pfarrer Strobel ist ’44 in Berchtesgaden geboren worden, als letztes von sieben Kindern. Da war sein älterer Bruder schon 25 und kurz davor, sein Theologiestudium zu beenden.
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