Weisser Schrecken
ihrer Haustür standen.
»Okay, du weißt, was du zu sagen hast?«, fragte Andy leise, als sie auf dem zugeschneiten Innenhof standen. Sein Blick fiel auf zwei überfüllte Ascheimer, neben denen eine Vielzahl blauer Müllsäcke stand. In einer Ecke war eine leere Hundehütte zu sehen, deren Schrägdach ebenso von einer Schneehaube geziert wurde wie das Gestänge des Fahrrads neben der Haustür. Elke nickte, und so traten sie gemeinsam vor die Stufen der Haustür und klingelten. Eine korpulente Frau mit Dauerwelle und Doppelkinn öffnete ihnen.
»Wir geben nichts!«, blaffte sie die Jugendlichen an.
»Oh, wir sammeln nicht«, säuselte Elke freundlich. »Wir sind hier, weil wir Ihren Vater sprechen möchten.«
»Meinen Vater?« Misstrauisch starrte Frau Hoeflinger Andy und Elke an. »Der Alte hat sie nicht mehr alle. Was wollt ihr von dem?«
»Es geht um eine Schularbeit«, schwindelte Andy. »Wir sollen Geschichten aus unseren Heimatdörfern sammeln, wie es hier vor dem Krieg war.«
»Wenn ihr glaubt, wir waren Nazis, dann irrt ihr euch«, herrschte die Frau sie an. »Mein Vater war von Jugend an Sozialdemokrat und hat dafür sogar einige Jahre lang in München im Gefängnis gesessen. Und nach dem Krieg war der sogar bei der Polizei in Bad Reichenhall. Glaubt also ja nicht, dass ihr uns irgendwas anhängen könnt. Kümmert euch lieber mal um die Toschlagers.« Sie schnaubte abfällig. »Der alte Toschlager war damals sogar bei der Waffen-SS und ist dann vor Stalingrad verreckt. Davon wollen sie heute natürlich nichts mehr wissen, aber …«
»Nein, nein.« Andy winkte ab, auch wenn ihn die Enthüllung im höchsten Maße interessierte. Er freute sich schon darauf, das Konrad bei nächster Gelegenheit unter die Nase zu reiben. »Uns geht es nicht um Nazis, sondern um das tägliche Leben hier und wie sich das Dorf im Laufe der Zeit gewandelt hat.«
»Ach so.« Die Dicke blähte enttäuscht ihre Nasenflügel. »Na gut, ich frag mal, ob er euch sehen will. Aber denkt dran, der tickt hier oben nicht mehr ganz richtig.« Sie tippte sich gegen die Stirn. »Und wenn ihr doch noch mal irgendwann die Hitlerzeit durchnehmt, dann kommt gern wieder vorbei. Ich will ja hier niemanden denunzieren, aber ich kann euch Dinge erzählen, das werdet ihr nicht glauben.« Sie wandte sich ab, und Andreas und Elke sahen sich an.
»Mann, ist das ein Drache!«, flüsterte er belustigt. Auch Elke schmunzelte, doch plötzlich wurde sie ernst. »Du, das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Konrad und Lugge haben sich heute auf dem Friedhof ziemlich seltsam aufgeführt.«
»Mädchen schlagen bezeichnest du bloß als ›ziemlich seltsam^«, meinte er wütend. »Das sollen diese Ärsche noch einmal versuchen. Dann können sie ihre Gliedmaßen einzeln nach Hause tragen.«
»Ja, aber das war nicht alles. Die beiden wirkten irgendwie seltsam. Konrad meinte, dass ihr ihm bald gar nichts mehr könntet. Und er schien ziemlich überzeugt davon zu sein.«
Bevor Andreas antworten konnte, kehrte die Hoeflinger zurück. »Er ist oben und wartet auf euch. Aber sagt mir nachher nicht, dass ich euch nicht gewarnt hätte.« Seufzend führte sie Andreas und Elke in den Hausflur, wo es penetrant nach Kohlsuppe stank. Dann wies sie die beiden zu einer Treppe ins Obergeschoss. »Am liebsten würde ich ihn ja entmündigen lassen, aber dazu ist er noch nicht plemplem genug. Auf jeden Fall benötige ich einen Kipplader, um das Gerümpel da oben auszumisten, wenn er mal das Zeitliche segnet.«
Hastig stiefelten die Freunde die Treppe nach oben, deren Stufen bereits auf halben Weg von Flaschen, Zeitungen und Stapeln alter Fernsehzeitschriften ausgefüllt wurden. Oben angelangt erwartete sie eine offenstehende Tür zu einem langen Flur, an dessen Wänden sich bis unter die Decke Regale, Kartoffelkisten und Kartons stapelten, die mit unzähligen Fundstücken gefüllt waren: Fahrradklingeln, fleckige Bücher, zerrupfte Stoffpuppen, Teile einer Holzeisenbahn, Tüten mit Luftballons, mehrere alte Taschen und Schulranzen, Mützen und Schals, Angeln samt Schnüren und Haken, eine Sammlung alter Luftpumpen, Sandkastenförmchen und Schaufeln, zwei fleckige Schlafsäcke, Wanderschuhe, ausrangierte Federballschläger und sogar ein ganzes eingepacktes Zelt. Staunend starrten Andreas und Elke die Fundsachen an. Alles schien nach einem bestimmten System geordnet zu sein, nichts deutete auf Verwahrlosung hin. An manchen der Kisten hingen kleine Plaketten mit einer
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