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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Finn
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weißt schon. Wir dachten, da treffen wir jemanden, der uns mehr über sie sagen kann.«
    »Sie war ihre Schwester. Aber das weißt du ja mittlerweile.« Niklas nickte, obwohl sein Vater die Geste vermutlich gar nicht sehen konnte. Und doch spürte er dessen prüfenden Blick wie kleine Nadeln auf seinem Körper. »Nur gibt es Dinge, die man besser unangetastet lässt.« Er zog ein weiteres Mal an seiner Pfeife. »Ihr hattet doch nicht etwa vor, euch heute Nacht noch einmal zu treffen? Gar, um in die alte Leichenhalle einzudringen, um dort einen Blick auf das tote Mädchen zu erhaschen?« Niklas spannte sich. »Wusstest du, dass gestern jemand in die Leichenhalle eingebrochen ist, Sohn?«
    Teufel, war ja klar, dass jemand ihre Spuren entdeckt hatte.
    »Nein«, krächzte Niklas. »Weiß man schon, wer?«
    »Den Spuren nach zu urteilen, Jugendliche«, antwortete sein Vater mit lauernder Stimme. »Hier aus dem Ort.« Gott sei Dank, sein Vater wusste offenbar doch nicht alles. Hinter Niklas’ Stirn rotierte es. »Das war ganz sicher Konrad mit seiner Bande. Komischerweise waren die heute auch auf dem Friedhof. Die haben uns dort aufgelauert und uns verprügelt. Aber dann ist Pfarrer Strobl dazwischengegangen.«
    Niklas’ Vater klopfte die Pfeife schweigend in einem Aschenbecher aus und sog pfeifend die Luft ein. »Es ist sehr unklug, nachts zu dieser Jahreszeit draußen rumzustreunen. Die Nächte hier in Perchtal können gefährlich sein.«
    »Was meinst du damit, Papa?«
    »Sind dir die Raunächte ein Begriff?«
    »Ja, klar.« Niklas unterdrückte den Zwang, nach einer Süßigkeit zu greifen. »Das sind die zwölf Nächte zwischen 21. Dezember und 6. Januar«, dozierte er. »Die wichtigsten Raunächte sind die Thomasnacht zwischen 21. und 22. Dezember. Die Wintersonnenwende. Das ist die längste Nacht im Jahr. Außerdem die Christnacht am 24. Dezember, die Sylvesternacht vom 31. Dezember auf den ersten Januar und die Ephiasnacht zwischen 5. und 6. Januar.«
    »Kluger Junge. Aber bist du dir sicher, dass das so stimmt?« Niklas’ Vater lehnte sich in der Dunkelheit vor, eine Bewegung, die trotz der Tatsache, dass er nicht allzu groß war, bedrohlich wirkte. »Du musst wissen, dass im Jahre 1582 der gregorianische Kalender eingeführt wurde. Da gingen einige Tage verloren. Man hat sie einfach übersprungen. Das hat vielerorts zu Verwirrungen geführt. Aber nicht hier bei uns in Perchtal. Denn die Raunächte beginnen in Wahrheit schon weitaus früher. Nämlich heute. In der Nacht vom fünften auf den sechsten Dezember. Ein Wissen, das schon unsere Vorfahren hüteten. Und es ging niemals verloren.« Draußen vor dem Haus war das Heulen des Windes zu hören. »Weißt du, woher der Begriff stammt?«
    Niklas erinnerte sich wieder an das Brauchtumsbuch. »Von ›Rauch‹?«, antwortete er zögernd. »Früher segneten die Priester in diesen Nächten Häuser und Ställe mit Weihrauch und Weihwasser.«
    »Falsch!«, flüsterte sein Vater. »Es leitet sich von mittelhochdeutschen ›rüch‹ ab, und das bedeutet ›haarig‹. Noch heute sprechen die Kürschner von Rauware, wenn sie Tierfelle meinen. Die Raunacht verweist seit alters auf die fürchterlichen Wesen, die in diesen Stunden unterwegs sind. Hast du schon von ihnen schon gehört?«
    »Nein.« Niklas fragte sich, was der Vortrag zu bedeuten hatte.
    »Das solltest du aber, Sohn. Denn in diesen Nächten fährt die Wilde Jagd vom Himmel herab: ein Heerzug, bestehend aus schrecklichen Dämonen, die sich rasselnd, schreiend und geifernd auf jeden stürzen, den sie unterwegs antreffen. Darunter sind Tote, die vor ihrer Zeit gestorben sind. Außerdem Hexen, Teufel, Pferde und Hunde. Das ganze Kaleidoskop des Schreckens.« Sein Vater rückte noch näher. »Und weißt du, wer sie anführt?«
    »Wer?«
    »Der Tod selbst führt sie an. Angeblich ist er in ein fahles Leichengewand gehüllt. Weiß wie Schnee. Und er reitet einen ebenso weißen Leichenschimmel. Einige nennen ihn Berchthold, Raurecht oder Ruprecht. Wieder andere bloß den wilden Jäger. Wenn man ihn erblickt, so heißt es, dann ist es zu spät. Doch man kann ihn hören, wenn er naht. Denn seine Knochen klirren wie Ketten. Gefühllos. Gnadenlos. Wie kaltes Eis!« Sein Vater ließ die Knöchel knacken. »Wen auch immer Ruprecht alleine aufspürt, den packt er und zerrt ihn mit sich. Keiner vermag ihm zu entkommen. Und keinen hat man je wiedergesehen, der von der Wilden Jagd entführt wurde. Es heißt, die Seelen der Opfer

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