Weißer Teufel
hier.«
»Das kann ich nicht!«, quäkte Andrew. »Ich muss zurück in die Schule!«
»Damit Sie die Krankheit noch weiterverbreiten können? Kommt nicht in Frage.«
»Ich muss einen Essay schreiben.«
Allein die Aussage klang absurd. Hätte er alles offenbart – Ich muss einen Geist mit dem Mord, den er zu Lebzeiten begangen hat, konfrontieren, und nur ich weiß so viel über ihn, dass ich ihn stellen kann –, würde er sofort für verrückt erklärt.
Dr. Minos schüttelte aufgebracht den Kopf. »Ich hab genug gehört.«
Die Schwester kam zurück und rollte einen kleinen Karren mit einer Sauerstoffflasche und einem langen durchsichtigen Schlauch ins Zimmer. Sie packte den Schlauchaus. Eine andere Schwester brachte einen Rollstuhl herein. Dr. Minos drückte die biegsame Gesichtsmaske, die an die Sauerstoffflasche gehakt war, aus der Verpackung, befestigte sie an dem Schlauch. Daraufhin justierte die Schwester die Sauerstoffzufuhr. Andrew hatte das Gefühl, dass ein Persönlichkeitsrecht verletzt wurde – wie konnten sie mit einem so wertvollen Menschen wie Persephone derart unsanft umspringen?
Doch er kam wieder zur Besinnung.
Der Arzt und die beiden Schwestern waren beschäftigt. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Kranken. Das war die Gelegenheit für die Flucht.
Dennoch schwankte er. Er hatte beinahe vierundzwanzig Stunden mit Persephone verbracht, sich um sie bemüht, sie berührt. Seine Realität hatte sich verschoben. Er brauchte Persephone in seiner Nähe. Der Gedanke, sie hier allein zu lassen, widerstrebte ihm.
Andererseits – wenn er sich jetzt aus dem Staub machte, konnte er nach Harrow fahren und Fawkes und Dr. Kahn berichten, was er im Trinity erfahren hatte. Sie könnten ihm helfen, Harness’ Geschichte zusammenzusetzen. Sie könnten eine improvisierte Séance mit dem Essay Club abhalten, sich dem Geist entgegenstellen und ihn vertreiben. Sie könnten Roddy und Persephone retten.
Aber würde das funktionieren?
John Harness – ausgezehrt und mordlustig – beobachtete jetzt jeden seiner Schritte. Er war Andrew von Harrow nach Cambridge gefolgt; er hatte einen Unbekannten in der Vergangenheit und Theo in der Gegenwart getötet. Und er beabsichtigte ohne jeden Zweifel, weitere Morde zu begehen.
Vielleicht sollte ich einfach abhauen, überlegte Andrew. Fliehen. Irgendwo in einen Zug steigen und den Geist mitnehmen. Oder er nahm ein Taxi zum Flughafen und ließ alles hinter sich. Dann würde er in New York mit nichts – nur mit dem, was er auf dem Leib trug – landen.
Nein, das war nicht gut. Zum einen lag sein Pass in Harrow. Zum anderen würde er Persephone und Roddy schmählich im Stich lassen, während ihr Leben an einem seidenen Faden hing.
Nach getaner Arbeit schoben die Schwestern den Rollstuhl mit dem Sauerstoffgerät aus dem Zimmer; Dr. Minos hielt ihnen die Tür auf. Zu dritt bugsierten sie Persephone auf den Korridor.
Andrew war für den Augenblick ganz und gar vergessen.
Er drückte Persephones Kleider an seine Brust. Dies war der Moment der Entscheidung. Er schlüpfte durch die Tür. Die Gruppe mit Persephone ging nach links, er schwenkte nach rechts ab und lief in Richtung Ausgang, warf Persephones Kleider auf das Pult der Informationsstelle und erntete damit einen verwunderten Blick. Andrew sprintete los. Die Frau hinter dem Pult stand auf und rief ihm etwas nach. Andrew erreichte den Ausgang und stürmte ins Freie. Die kalte Luft traf ihn wie ein Schlag. Verkehrslärm. Die Durchgangsstraße. Freier Himmel. Er sprang die Stufen hinunter und bog um die Ecke. In ein paar Sekunden konnte er in der städtischen Wildnis untertauchen. Er überquerte die Straße und fing an zu rennen. Dabei holte er sein Handy aus der Hosentasche und tippte unter Tränen eine SMS an Persephone ein. Er war so ungeschickt, dass er sich verschrieb.
I liove u
I love tiuu
I love you
Er spähte über die Schulter, um nachzusehen, ob ihm ein Sanitäter oder irgendjemand im weißen Kittel folgte. Er musste nach Harrow. Wenn er Harness aufhalten wollte, musste er zu dem Ort, an dem der Speech Day stattgefunden hatte, und ergründen, was Harness getan hatte. Wen er im Juni vor zweihundert Jahren umgebracht hatte und warum?
Ich werde dich finden, ihn vernichten, und alles wird gut.
TEIL 3
And a spirit of the air
Hath begirt thee with a snare
20
Wo ist er jetzt?
»Wo ist er jetzt, Piers?«, fragte der Rektor in einem Ton, den er in letzter Zeit immer anschlug, wenn er den Hausvater des
Weitere Kostenlose Bücher