Weisses Gold
Audienz bei Mulai Ismail eingeladen. Bei dieser ersten Begegnung überhäufte ihn der Sultan mit Liebenswürdigkeiten. Kirke wurde »vom König in seinem Garten empfangen, und begleitet wurde dieser von vier seiner wichtigsten Berater und Kaids, von seinen Paschas und Kommandanten«. In Ehrfurcht erstarrt angesichts dieses förmlichen Empfangs, überreichte der nervöse Oberst dem Sultan das Entschuldigungsschreiben von Sir James Leslie. Mulai Ismail lächelte liebenswürdig und »gab mir mehr wohlwollende Antworten, als man von einem so stolzen Prinzen erwarten durfte«.
Der Sultan behandelte Kirke außergewöhnlich gastfreundlich, zeigte ihm seinen Löwenzwinger und verwöhnte ihn mit einer spektakulären Vorführung marokkanischer Reitkunst. »Wir schulden ihm große Anerkennung für die freundliche Behandlung, die er uns angedeihen ließ«, schrieb eines der Mitglieder von Kirkes kleinem Gefolge, »denn er versorgte uns nicht nur im Überfluss mit allem, was wir benötigten, sondern legte auch die Gefälligkeit an den Tag, die einem edlen Mann geziemt.«
Mulai Ismail verstand es, den Gästen aus England zu schmeicheln, und er bemühte sich sehr, Colonel Kirke für sich einzunehmen und zu manipulieren. Er lud ihn zum Tee in seinem exquisiten Lustgarten ein, führte ihn durch die duftenden Orangenhaine und zeigte ihm die malerischenPavillons und die kühlen Wasserbecken. Die beiden Männer »sprachen sehr moralisch über Vertrauen und Ehre«, und als Kirke ohne allzu großen Nachdruck auf die heikle Frage des Friedensvertrags zu sprechen kam, lächelte Mulai Ismail kapriziös und schlug einen vierjährigen Waffenstillstand vor. Er schwor, es werde »niemals eine Kugel auf Tanger abgefeuert, solange [er sich] dort aufhielte«, berichtete Oberst Kirke.
Der Oberst war hocherfreut über seinen Verhandlungserfolg und beglückwünschte sich zu seinem diplomatischen Geschick. Er war überzeugt, er verhandle mit einem vertrauenswürdigen Mann, der um eine engere Beziehung zur englischen Krone bemüht war. Als der Sultan seinen neuen Freund fragte, ob er zehn große Kanonen für die marokkanische Armee haben könne, war der Oberst nur zu gern bereit, ihm diesen Wunsch zu erfüllen, und versprach, Mulai Ismail »alles zu beschaffen, was ihm fehlte«.
Kirke legte in den Verhandlungen mit Mulai Ismail eine unerhörte Naivität an den Tag und überschritt seine Kompetenzen deutlich. Er war lediglich als Emissär nach Meknes geschickt worden, maßte sich jedoch die Rolle eines Botschafters an. Die Übertretung seiner Befugnisse hätte Leslie ihm möglicherweise verziehen, doch Kirke war obendrein vollkommen gleichgültig gegenüber dem Schicksal der englischen Sklaven in Marokko. Diese Menschen, deren Zahl bei mindestens 300 lag, es könnten aber auch sehr viel mehr gewesen sein, wurden unter den erbärmlichsten Bedingungen gefangen gehalten. Es ist anzunehmen, dass Kirke sie bei der Arbeit sah, denn Mulai Ismail nutzte jede Gelegenheit, ausländischen Gesandten seine Sklaven vorzuführen. Doch in den Meldungen an seine Vorgesetzten erwähnte Kirke diese Menschen mit keinem Wort. Stattdessen pries er in einem Brief, den er nach London schickte – wo ungeduldig Neuigkeiten über den Verbleib der Sklaven erwartet wurden –, die charakterlichen Vorzüge des Sultans. »Ich muss der ganzen Welt berichten«, schrieb er, »dass ich einen freundlichen Prinzen und gerechten General kennen gelernt habe.«
Sir James Leslie wartete in Tanger zwei Monate auf das Schiff, das die Geschenke für den Sultan bringen sollte. Im März traf es endlich ein, so dass Leslie nach Meknes aufbrechen konnte. Er besaß größere Menschenkenntnis als Kirke und stellte rasch fest, dass der Sultan bereitwillig Versprechungen machte, jedoch wenig Eifer zeigte, wenn es darumging, seine Zusagen auch zu halten. Leslie versuchte alles, um Mulai Ismail zur Freilassung der Sklaven zu bewegen, doch der Sultan gab vor, in dieser Frage seien ihm die Hände gebunden. Stattdessen beauftragte er Kaid Omar – den Mann, der von den Engländern besiegt worden war –, mit dem Entwurf einer Waffenstillstandsvereinbarung.
Als der Gesandte das Gespräch erneut auf die Freilassung der englischen Sklaven brachte, zeigte Mulai Ismail noch geringere Bereitschaft zu verhandeln. Zunächst musste Leslie die schwierige Frage klären, wie viele Engländer sich tatsächlich in der Gewalt des Sultans befanden. Mulai Ismail gab an, er habe lediglich 130 englische Sklaven, darunter
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