Weisses Gold
ihrer kranken und bettelarmen Männer freuen würden. Und die Heimkehrer ahnten nicht, dass ihre Befreiung in England hohe Wellen geschlagen hatte und dass sie von einer gewaltigen Menschenmenge erwartet wurden.
Ein abrupter Wetterwechsel war der erste Hinweis darauf, dass sie sich der Heimat näherten. Die sengende Hitze Marokkos war Stück für Stück der frischen Seeluft im Atlantik und anschließend in der Nordsee gewichen, und an die Stelle eines kobaltblauen Himmels waren mittlerweile bleigraue Wolken getreten. Als sich das Schiff London näherte, kam ein beißend kalter Wind auf, der die Männer zwang, sich unter Deck zurückzuziehen. Stewarts Schiff glitt langsam durch das ockerfarbene Wasser der Themsemündung und segelte am Morgen des 4. Dezember unter der London Bridge hindurch.
Die Stadtverwaltung hatte geplant, die Heimkehrer direkt zur St. Paul’s Cathedral zu bringen, wo ein Dankgottesdienst stattfinden sollte. Aber am Ufer drängten sich so viele Schaulustige, dass man stattdessen beschloss, mit den befreiten Sklaven durch die Straßen der Hauptstadt zu ziehen, damit so viele Menschen wie möglich sie sehen konnten. Der Umzug führte durch einige besonders belebte Stadtviertel, wo Ärzte und Quacksalber neben Buchhändlern, Lebensmittelhändlern und Marktschreiern um Kundschaft buhlten.
Die Zeitungen von jenem Tag liefern ein aufschlussreiches Bild der Geschehnisse rund um diesen Triumphzug. In der Fetter Lane steckte der Chirurg John Douglas gerade mitten in einer öffentlichen Operation, bei der er »die neue Methode zum Entfernen des Steins« vorführte. Nur mit einem kleinen Messer und einer großen Pinzette bewaffnet, wandte er eine Technik an, die er als »die sicherste und zuverlässigste Operationsmethode« bezeichnete. Ein Stück weiter in der Abchurch Lane stellteder Apotheker J. Moore stolz »einen sehr großen Wurm von mehr als drei Metern Länge« zur Schau, den die Frau eines Maurers ausgeschieden hatte. Sie hatte »lange Zeit sehr unter Ohnmachtsanfällen, Bauchkrämpfen und Wallungen gelitten«, ohne den Grund für ihre Beschwerden zu verstehen. Moores Wurmpuder hatte die Antwort geliefert. Einige Löffel von der Arznei hatten dem schädlichen Parasiten rasch den Garaus gemacht und ihn aus der Patientin herausbefördert.
Als die befreiten Sklaven die Cannon Street erreichten, konnten sie womöglich einen Mann namens Richard Hayes sehen, der dort auf einer Bühne stand und eine neue Methode erläuterte, anhand deren man rasch schreiben lernen und die Geheimnisse der Arithmetik verstehen konnte. In der Nähe wurde Unterricht in »der italienischen und der französischen Sprache« erteilt. In Red Lyon Fields wurde an diesem Morgen die irdische Hinterlassenschaft des verstorbenen Sergeant Hae versteigert (zu der auch ein schönes Porzellanservice zählte), während in St. Clement’s Coffee House eine große Menge antiquarischer Bücher angeboten wurde. Doch keine dieser Attraktionen konnte sich mit der Zurschaustellung von 293 abgezehrten und zerlumpten Sklaven messen, die »in ihren maurischen Gewändern« durch die Stadt geführt wurden. Eine riesige Menschenmenge drängte sich um diese verwirrten Männer, denen es immer schwerer fiel, sich ihren Weg zu der weit entfernten Kathedrale zu bahnen.
Das von Sir Christopher Wren gebaute Gotteshaus war das großartigste Bauwerk der Stadt. Die Bauarbeiten waren elf Jahre zuvor abgeschlossen worden, und der weiße Stein glitzerte in der fahlen Wintersonne. Die symmetrische Strenge und der barocke Dom von St. Paul’s hatten nichts mit den weitläufigen Moscheen und Palästen von Meknes gemein. Die befreiten Sklaven wurden ins Dämmerlicht der großartigen Kirche geschoben, in der sich Bürger und Kaufleute drängten, um die Heimkehrer zu begaffen und im Gebet für ihre Befreiung zu danken. Viele Sklaven hatten in der Gefangenschaft darunter gelitten, dass sie nicht gemeinsam hatten beten dürfen. Nun kamen sie in den zweifelhaften Genuss eines langweiligen Gottesdienstes, der fast den gesamten Vormittag dauerte.
Orchestriert wurde die Feier von Reverend William Berryman, dem Kaplan beim Bischof von London, der der Versuchung nicht widerstehen konnte, einen schwer erträglichen Sermon über die Gefangenschaft zuhalten. »Der glückliche Anlass für unser Beisammensein«, begann er, »ist die Rückkehr unserer Brüder aus der Sklaverei unter dem Joch der Ungläubigen.« Berryman gestand den Heimkehrern das Recht zu, nun wieder »die
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