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Weisses Gold

Weisses Gold

Titel: Weisses Gold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Milton
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entlassen werde, wo auch immer im Land sie sich aufhielten«. Mit einer Lanze in der Hand galoppierte er in einer dramatischen Geste davon, gefolgt von seinen Leibwächtern, die verzweifelt mit ihm Schritt zu halten versuchten.
    Als Mulai Ismail verschwunden war, begrüßte Stewart die Männer und sah sich an, in welcher Verfassung sie waren. Er hatte allen Grund, stolz zu sein, denn es war ihm gelungen, alle Gefangenen aus Großbritannien und den amerikanischen Kolonien zu befreien, die in den Sklavenpferchen von Meknes festgehalten worden waren. Aber er hatte nicht eine einzige Frau aus dem Harem retten können – sofern es dort überlebende Engländerinnen gab –, und auch die in anderen Landesteilen lebenden britischen Sklaven befanden sich weiterhin in Gefangenschaft. Und es gab eine Gruppe, die seiner Aufmerksamkeit völlig entgangen war: Kein einziger britischer Renegat war befreit worden, obwohl viele dieser Männer nur unter Zwang zum Islam übergetreten waren und sich nichts sehnlicher wünschten, als zu ihren Familien heimzukehren.
    Unter diesen Männern war auch Thomas Pellow, der Stewart während seines gesamten Aufenthalts in Meknes als Dolmetscher und Berater gedient hatte. Die Einzelheiten ihrer Begegnung liegen leider im Dunkeln. Pellow erwähnte sie in seinem Tagebuch nicht, weil er wusste, dass Stewart selbst über die Mission berichten wollte. Aber mit Sicherheit beriet er den Gesandten zu »Ankunft, Verhalten, Umgangsformen und Rückkehr« und spielte eine wichtige Rolle bei der Befreiung der Sklaven. Man dankte es ihm, indem man ihn seinem Schicksal überließ – und damit den Launen des gefährlichen und sprunghaften Sultans. Pellow war verzweifelt, denn er hatte auf seine Befreiung gehofft. Nun blieb ihm nur noch eine Wahl, wenn er seine Familie in Penryn je wiedersehen wollte: Er musste fliehen.

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    10
Flucht oder Tod
    Am 1. Dezember 1721 verbreitete sich in den Straßen und auf den Märkten Londons ein aufregendes Gerücht: Es war ein Schiff gesichtet worden, das die Themsemündung hinauf segelte – das Flaggschiff von Charles Stewart –, und an Bord befanden sich offenbar hunderte ausgemergelte Männer.
    Die Klatschmäuler in der Grub Street waren sich rasch darin einig, dass es sich um die in Marokko befreiten englischen Sklaven handeln müsse. Die
Daily News
war die Erste, die diese sensationelle Neuigkeit druckte. Sie schickte einen ihrer Berichterstatter den Fluss hinunter, um die Fakten zu prüfen, und er kehrte mit der Bestätigung zurück, dass es sich tatsächlich um Stewarts Schiff handelte. Er meldete, dass die befreiten Sklaven am nächsten Montag landen und am selben Tag alle zusammen vom Hafen aus durch die Stadt ziehen würden.
    Die Stadtverwaltung war bereits über die Ankunft der befreiten Männer informiert und hatte eine sorgfältig choreographierte Feier vorbereitet. Im Anschluss an einen feierlichen Gottesdienst war ein Triumphzug durch die Straßen der Hauptstadt geplant. Der für die Festlichkeiten vorgesehene Tag war der 4. Dezember, und die Feiern sollten bis zum Mittag dauern. Tatsächlich sollten sie sich sehr viel länger hinziehen.
    Stewart tat sein Bestes, um die Männer auf einen lärmenden Empfang durch eine riesige Menschenmenge vorzubereiten. Die Begrüßung versprach überwältigend zu werden. Die heimkehrenden Sklaven wurden angewiesen, sich nicht zu rasieren oder zu waschen und die schmutzigen Dschellabas nicht abzulegen, die sie seit dem Aufbruch in Meknes trugen: Stewart wollte, dass sie möglichst elend und erniedrigt aussahen. Die Heimkehr der Sklaven bot dem König und seinen Ministern eine ausgezeichnete Gelegenheit, sich für ihren Anteil an der Befreiung dieser Männer feiern zu lassen – so gering ihre Leistungen auch gewesen sein mochten. Je deutlicher den Männern die durchlittenen Qualen unddas Elend anzusehen waren, desto mehr Grund würden die Bürger Londons haben, ihrem König zuzujubeln.
    Niemand weiß, was diese Männer empfanden, als das Schiff an den Feuchtwiesen und Marschen entlang der Themse vorüber glitt. Die meisten von ihnen waren Analphabeten, und die wenigen, die schreiben konnten, waren mit der Aufgabe, ihre Begeisterung oder Ängstlichkeit zu beschreiben, geistig überfordert. Sie sehnten sich gewiss nach dem Wiedersehen mit ihren Angehörigen, dürften sich zugleich jedoch auch davor gefürchtet haben. Die wenigsten wussten, ob ihre Frauen und Kinder noch lebten und ob sie sich wirklich über die Rückkehr

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