Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Dank nicht besser wurden. Ich stellte mich beim Suchen sehr ungeschickt an, also musste ich immerzu suchen und suchen! So sah mein Leben an vielen Tagen jenes Jahres in Äthiopien aus. Es war nicht mein schlechtestes Jahr.
XIX.
»Valentino, kommen Sie mit.«
Julian steht vor mir. Er ist wieder da.
»Kernspin. Kommen Sie.«
Ich stehe auf und folge Julian raus aus der Notaufnahme und den Gang hinunter. Auf dem Flur riecht es nach menschlichen Exkrementen.
»Ein Obdachloser hat hier hingeschissen«, erklärt mir Julian, während er erstaunlich flink weitergeht. Wir erreichen die Fahrstühle, und er drückt einen Knopf.
»Das mit dem Überfall tut mir leid, Mann«, sagt er.
Wir treten in den Fahrstuhl. Es ist 1.21 Uhr.
»Ist mir auch schon passiert. Vor ein paar Monaten«, sagt er. »Lief genauso ab. Zwei Typen, einer davon mit einer Pistole. Die sind mir vom Laden nach Hause gefolgt, und im Treppenhaus haben sie mich erwischt. Blöd. Die haben höchstens neunzig Kilo auf die Waage gebracht, beide zusammen.«
Ich schiele wieder zu Julian hinüber. Er ist kräftig gebaut, nicht unbedingt das ideale Opfer für einen Überfall. Aber wenn er seine Krankenhauskluft getragen hat, haben sie sich wahrscheinlich gedacht, dass er ein friedfertiger Mann ist.
»Was haben sie gestohlen?«, frage ich.
»Gestohlen? Die haben nichts gestohlen, Mann. Ich bin Kriegsveteran! Ich war gerade fünf Wochen aus dem Irak zurück, als sie den Scheiß mit mir probiert haben. Ich wusste auf dem ganzen Nachhauseweg, dass sie mir folgen. Ich hatte reichlich Zeit, mir zu überlegen, wie ich reagieren würde, und ich hatte mir was überlegt: Ich wollte einem von denen die Nase brechen, ihm dann die Waffe abnehmen und seinen Freund damit erschießen. Den einen, den ich nicht töten würde, wollte ich dann festhalten, bis die Cops kommen. Der hätte den Rest seines Lebens keine ruhige Minute mehr gehabt. He, wie spricht man eigentlich Ihren zweiten Vornamen aus?«
»Achak«, sage ich und hüpfe dabei sehr schnell über die erste Silbe. Im Sudan ist das »A« kaum hörbar.
»Schon mal von Chaka Khan gehört?«, fragt Julian.
Ich verneine.
»Schon gut«, sagt er. »War ne blöde Anspielung.«
Der Mann löst Scham in mir aus, weil ich mich nicht entschiedener gegen meine Angreifer gewehrt habe. Auch ich kam schließlich aus einem Krieg, obwohl ich nie richtig ausgebildet wurde, im Gegensatz zu diesem Julian. Ich blicke kurz auf seine vernarbten und tätowierten Arme, die ungefähr dreimal so dick sind wie meine.
Der Fahrtstuhl geht auf, und wir betreten die Kernspintomografie. Ein Inder erwartet uns. Er sagt zu keinem von uns beiden ein Wort. Wir gehen an ihm vorbei und in einen großen Raum mit einem kreisrunden Grabmal in der Mitte. Ein flaches Bett ragt aus dem Loch in der Mitte.
»Haben Sie so was schon mal gemacht?«, fragt mich Julian.
»Nein«, sage ich. »So ein Gerät habe ich noch nie gesehen.«
»Keine Angst. Das tut nicht weh. Sie dürfen nur nicht an Krematorien denken.«
Ich lege mich auf das weiße Bett. »Muss ich die Augen offenhalten oder schließen?«
»Ganz wie Sie wollen, Valentino.«
Ich beschließe, die Augen geöffnet zu lassen. Julian geht weg, und ich höre seine fast lautlosen Schritte, als er den Raum verlässt. Ich bin allein, und das Bett gleitet in die Kammer.
Der Ring über mir surrt und kreist um meinen Kopf, und ich denke an Tonya und Puder und mir fällt ein, dass sie auf freiem Fuß sind und wohl nie geschnappt werden. Inzwischen verkaufen sie meine Sachen in einem Pfandleihhaus und haben Michael dort abgeliefert, wo auch immer er sich zu Hause fühlt. Sie glauben, sie haben mir eine Lektion erteilt, und sie haben recht.
Über mir beginnt der kleinere Ring, sich in dem größeren zu drehen.
Ich setze große Hoffnungen auf diese Untersuchung. Ich habe schon von Kernspintomografie gehört. Der Name fiel oft, wenn Mary Williams und Phil und andere darüber nachdachten, wie man meinen anhaltenden Kopfschmerzen auf den Grund gehen könne. Und jetzt werde ich endlich erfahren, was mir fehlt, ich werde die Antwort bekommen. In Pinyudo hat uns Pater Matong einmal unter einer weiß gestreiften Wolkendecke vom Tag des Jüngsten Gerichts erzählt. Als andere Jungen und ich erklärten, wir würden uns vor dem Urteil am Jüngsten Tag fürchten, beschwichtigte er unsere Angst. Ein Urteil ist Erleichterung, sagte er. Ein Urteil ist Befreiung. Man geht durchs Leben und ist unsicher, ob man richtig oder falsch
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