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Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Weit Gegangen: Roman (German Edition)

Titel: Weit Gegangen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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die Hose gepisst. Dann hab ich die Cops angerufen. Die haben fünfundvierzig Minuten gebraucht, bis sie da waren.«
    »Bei mir war es auch so«, sage ich. »Fünfundfünfzig Minuten.«
    Julian legt einen Arm um meine Schulter und drückt mir einmal kurz entschuldigend den Nacken. Der Fahrstuhl öffnet sich, und ich sehe Achor Achor und Lino am anderen Ende des Flurs.
    »Da fragt man sich, was die Cops eigentlich auf Trab bringt, nicht?«
    Weil Julian lächelt, bringe ich ein kurzes Lachen zustande.
    »Tja«, sagt er. »Was will man machen, nicht?«
    Ich drehe mich rasch zu ihm um. »Was haben Sie gesagt?«
    »Ach, nichts, Mann. Ich laber nur so vor mich hin.«
    Es ist, als würde mein Körper plötzlich unter Strom stehen.
    »Bitte. Was haben Sie gerade gesagt?«
    »Nichts. Ich habe bloß gesagt: Was will man machen? Im Sinne von, was soll man machen? Was dachten Sie denn, was ich gesagt hab?«
    Und schon hört der Strom auf zu fließen.
    »Entschuldigung«, sage ich. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Julian nach dem Was gefragt hätte. Ich denke, das Was hat etwas damit zu tun, dass er und ich fast eine Stunde auf die Polizei warten mussten, nachdem wir mit vorgehaltener Waffe bedroht worden waren. Es hat was damit zu tun, dass es neun Stunden gedauert hat, bis ich zur Kernspintomografie gerufen wurde, und dass ich jetzt zu einem Bett in der Notaufnahme geführt werde – vorbei an Achor Achor und Lino, die schwerfällig aufstehen –, um auf einen Arzt zu warten, der irgendwann meine Aufnahmen beurteilen wird.
    »Ich wünschte, ich könnte die Sache beschleunigen, Valentino«, sagt Julian.
    »Ich verstehe das«, sage ich.
    Ich setze mich auf das Bett, und Julian bleibt einen Moment bei mir stehen.
    »Ist das okay so für Sie?«
    »Ja. Können Sie meinen Freunden sagen, wo ich bin?«
    »Mach ich. Klar. Keine Bange.«
    Julian tritt vom Bett weg und zieht den Vorhang, der an einer Laufschiene von der Decke hängt, drum herum zu. Es besteht kein Zweifel, dass Julian mich lieber hier weiß, wo er mich nicht sehen muss, als ihm gegenüber auf einem Stuhl im Wartezimmer. Aber wenn er wieder an seinen Schreibtisch zurückkehrt, wie wird er dann auch Achor Achor und Lino verschwinden lassen?
    »Verzeihung, Julian?«, sage ich.
    Er kommt zurück. Der Vorhang quietscht, und Julians Gesicht erscheint erneut.
    »Entschuldigung«, sage ich.»Könnten Sie meinen Freunden bestellen, sie sollen jetzt nach Hause gehen, es gehe mir gut?«
    Er nickt und lächelt breit. »Klar. Ist ihnen bestimmt nicht unrecht. Ich werd’s ausrichten.« Er wendet sich zum Gehen, hält dann aber inne. Er starrt eine Weile auf das Klemmbrett und sieht dann aus den Augenwinkeln zu mir rüber.
    »Haben Sie im Krieg gekämpft, Valentino, im Bürgerkrieg?
    Ich verneine, erkläre ihm, dass ich kein Soldat war.
    »Ach so. Umso besser«, sagt er. »Da bin ich froh.«
    Und dann geht er.

XX.
    Ich wäre fast Soldat geworden, Julian. Ein Massaker hat mich davor bewahrt.
    Pinyudo veränderte sich nach und nach, und ich kam mir dumm vor, weil ich nicht ahnte, was dort geplant war. Heute glaube ich, dass die Führung der SPLA das alles von Anfang an im Sinn gehabt hat. Und wenn man ihnen diesen Weitblick tatsächlich zubilligen kann, bin ich hin-und hergerissen zwischen Ehrfurcht und Entsetzen.
    An einem Tag Anfang des Sommers, als überall Jungen tanzten und feierten, bekam ich erstmals eine Ahnung davon, was hinter all dem steckte. Ich war mit der Elf zusammen, wir saßen beim Abendessen unter der niedrigen Decke eines feuchten, grauen Himmels.
    – Garang kommt!, sangen Jungen und flitzten an unserer Unterkunft vorbei.
    – Garang kommt!, jubelte ein anderer Junge, ein Teenager. Er hüpfte ausgelassen wie ein Kind.
    – Wer kommt?, fragte ich den Teenager.
    – Garang kommt!
    – Wer?, fragte ich. Vieles von dem, was Dut erzählt hatte, hatte ich vergessen.
    – Pssst!, fauchte der Teenager warnend und sah sich nach Mithörern um. – Garang, der Anführer der SPLA, du Dummkopf, zischte er. Und dann war er weg.
    John Garang kam wirklich. Ich hatte den Namen schon gehört, aber ich wusste sehr wenig über den Mann. Die Nachricht von seiner Ankunft wurde nach dem Abendessen offiziell von den Ältesten bekannt gegeben. Sie suchten alle Baracken auf – wir lebten inzwischen in gemauerten Behausungen, grau und kalt, aber stabil –, und danach brach im ganzen Camp das heilige Chaos aus. Niemand schlief. Bis dahin hatte ich erst sehr wenig über John Garang

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