Weit Gegangen: Roman (German Edition)
anders. Ein Knacken, genau so, wie das eines Stocks, den man über dem Knie zerbricht.
In diesem Moment zerriss etwas in mir. Ich spürte es, ich konnte mich nicht irren. Es war, als sei in mir eine Handvoll straff gespannter Schnüre, die mich aufrecht hielten, die mein Hirn und mein Herz und meine Beine zusammenhielten, und als würde einer dieser Schnüre, dünn und zart, zerreißen.
Und an diesem Tag ließen sich die Rebellen in Marial Bai nieder, das fortan mit sich selbst im Krieg lag, weil die Rebellen und die Regierung darum stritten. Mit den Fußballspielen war es vorbei. Die Rebellen kamen nachts und plünderten, wo sie nur konnten. Tagsüber patrouillierten die Regierungssoldaten durchs Dorf, vor allem über den Markt, und verströmten den Geruch drohender Gefahr. Ständig entsicherten und sicherten sie ihre Gewehre. Allem, was irgendwie fremd war, begegneten sie mit Argwohn. Junge Männer wurden bei jeder Gelegenheit schikaniert. Wer bist du? Gehörst du zu den Rebellen? Das Vertrauen in die Armee hatte sich in Luft aufgelöst. Die bisher Unbeteiligten mussten sich für eine Seite entscheiden.
Ich durfte nicht mehr auf dem Markt spielen. Die Schule wurde auf unabsehbare Zeit geschlossen. Unser Lehrer war verschwunden und befand sich angeblich in irgendeinem Ausbildungslager der Rebellen bei Juba im äußersten Südosten des Landes. Unter den Männern von Marial Bai wurde unablässig und hitzig diskutiert, nach der Messe und beim Abendessen und überall auf den Wegen. Mein Vater befahl mir, zu Hause zu bleiben, und meine Mutter versuchte, mich zu Hause zu halten, aber ich stromerte doch herum, und manchmal bekamen Moses, William K und ich etwas mit. Wir waren es, die sahen, wie Kolong Gar weglief.
Es war dunkel, nach dem Abendessen. Wir waren zu dem Baum gegangen, von dem aus wir hören konnten, wie Amath und ihre Schwestern sich unterhielten. Das Versteck war mein Geheimnis gewesen, bis William K mich eines Tages im Baum entdeckt und gedroht hatte, mich zu verraten, wenn er nicht mit hinaufdürfte. Seitdem belauschten wir die Schwestern abends regelmäßig, aber vergeblich. Wenn auch nur ein wenig Wind aufkam, übertönte das Rascheln der Blätter unserer Akazie alles, was wir aus der Hütte unter uns hätten hören können. Die Nacht, in der wir Kolong Gar sahen, war so eine Nacht, sternenlos, mit Böen. Wir konnten kein Wort verstehen, das zwischen Amath und ihren Schwestern gesprochen wurde, und wir hatten keine Lust mehr, es noch weiter zu versuchen. Wir wollten gerade nach unten klettern, als Moses, der auf dem höchsten Ast saß, etwas sah.
– Wartet!, flüsterte er.
William und ich warteten. Moses deutete auf die Kaserne, und wir sahen, was er sah. Lichter, fünf an der Zahl, die über den Fußballplatz hüpften.
– Soldaten, sagte Moses.
Die Taschenlampen bewegten sich langsam über den Platz und liefen dann auseinander. Zwei verschwanden in der Schule und warfen Lichtscherben durch den Raum. Dann wurde die Schule wieder dunkel, und die Lichter begannen zu laufen.
In dem Moment rannte Kolong Gar direkt unter unserem Baum her. Kolong Gar war Soldat der Regierungsarmee, aber er war auch Dinka. Er stammte aus Aweil, und jetzt lief er weg, nur mit weißen Shorts bekleidet – ohne Schuhe oder Hemd. Ein kurzes Vorbeihuschen von Muskeln und das Blitzen vom Weiß seiner Augen, und er stürmte unter unseren baumelnden Beinen dahin. Wir sahen ihm nach, wie er an Amaths Hof vorbeiflog und den Hauptweg hinunter verschwand, der aus Marial Bai hinaus Richtung Süden führte.
Kurz darauf folgten ihm zwei der Lichter. Sie blieben kurz unter dem Baum stehen, auf dem wir saßen, drehten sich schließlich um und gingen zurück zur Kaserne. Die Suche war zu Ende, zumindest für diese Nacht.
So hatte Kolong Gar die Armee verlassen. Wochenlang erzählten wir diese Geschichte, die alle spannend und ungewöhnlich fanden, bis ähnliche Geschichten zur Gewohnheit wurden. Überall, wo Dinka-Männer der Regierungsarmee angehörten, desertierten sie, um zu den Rebellen überzulaufen. Von den ehemals zwölf Regierungssoldaten in Marial Bai waren bald nur noch zehn, dann neun übrig. Diejenigen, die übrig blieben, waren Araber aus dem Norden und zwei Soldaten aus Darfur. Die öffentliche Stimmung ließ nicht zu, dass sie blieben. Schnell schlug sich Marial Bai immer eindeutiger auf die Seite der Rebellen – die unter anderem eine bessere Vertretung südsudanesischer Interessen in Khartoum forderten – und den
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