Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Neunzig.
Bei einhundertfünfundzwanzig mache ich eine Pause. Ich begreife nicht, wieso bei dem Lärm niemand an die Tür gekommen ist. Meine Enttäuschung ist schlimmer als der Schmerz wegen der Fesseln. Wo bleiben diese Leute? Ich weiß, dass sie mich hören. Es kann nicht sein, dass sie mich nicht hören. Aber sie meinen, es gehe sie nichts an. Macht die Tür auf und lasst mich wieder aufstehen! Wenn ich die Hände frei habe, kann ich stehen. Ich kann meinen Mund befreien und euch erzählen, was hier geschehen ist.
Ich trete wieder zu: einhundertfünfzig. Zweihundert.
Es ist nicht zu fassen, dass niemand an diese Tür kommt. Ist die Welt wirklich so entsetzlich laut, dass mein Lärm ungehört bleibt? Ich brauche doch nur einen einzigen Menschen! Wenn nur ein Mensch an meine Tür kommt, genügt das schon.
Für die meisten Lost Boys in Amerika war Mary Williams einer der ersten Menschen, die sie hier kennenlernten. Sie gab ihnen Tipps, wo sie Unterstützung erhalten konnten, und half ihnen, sich zu orientieren. Mary mit den feuchten Augen und der brüchigen Stimme war die Gründerin der Lost Boys Foundation, einer Non-Profit-Organisation, die den Lost Boys in Atlanta helfen sollte, sich in das Leben hier einzugewöhnen, einen Platz am College zu erhalten, Arbeit zu finden. Achor Achor brachte mich zu ihr, als ich knapp eine Woche in Atlanta war. Wir verließen die Wohnung bei Regen und fuhren mit dem Bus zur Zentrale der Organisation – zwei Schreibtische in einem gedrungenen Gebäude mit viel Glas und Chrom mitten in Atlanta.
– Wer ist sie?, fragte ich ihn.
– Eine Frau, die uns mag, sagte er. Er erklärte, dass sie so etwas wie die humanitären Helfer in den Camps war, nur dass sie kein Geld nahm. Sie und ihre Mitarbeiter waren Freiwillige. Ich fand das seltsam, und ich fragte mich, was sie und ihre Mitstreiter wohl bewog, sich unentgeltlich für uns einzusetzen. Was ist los mit diesen Leuten?, fragte nicht nur ich, sondern fragten auch die anderen Sudanesen häufig, wieso sind sie bereit, so viel Zeit zu opfern, um uns zu helfen?
Mary hatte kurze Haare, weiche Gesichtszüge und warme Hände, mit denen sie meine umfasste. Wir setzten uns und sprachen über die Arbeit der Foundation, darüber, was ich benötigte. Sie hatte gehört, dass ich schon einmal öffentlich gesprochen hatte, und fragte mich, ob ich vielleicht bereit sei, auch in den hiesigen Kirchen, Colleges und Schulen zu sprechen. Ich sagte, ja, das sei ich. Ihr Schreibtisch war vollgestellt mit kleinen Tonkühen, ganz ähnlich wie die, die Moses gemacht hatte, als wir noch klein waren. Die Sudanesen in Atlanta stellten sie her, Mary versteigerte sie, und der Erlös floss in die Foundation. Das Büro, in dem Mary arbeitete, gehörte eigentlich ihrer Mutter, einer Frau namens Jane Fonda, die die Foundation obendrein tatkräftig unterstützte. Wie ich erfuhr, war Jane Fonda eine bekannte Schauspielerin, und weil viele Menschen offenbar mehr Geld für Dinge mit ihrer Unterschrift darauf bezahlten, hatte Jane Fonda auch einige der Kühe signiert.
Ich erinnere mich, dass ich an jenem Tag kurz mit Mary über meine Bedürfnisse und Pläne sprach, ehe man mir das Büro zeigte, und ich erinnere mich daran, wie verwirrt ich war. Mir wurde eine sehr große und kunstvolle Vitrine gezeigt, in der Hunderte glänzende Figuren und Medaillen ausgestellt waren, die Jane Fonda erhalten hatte. Während ich langsam und mit trockenen Augen – ich konnte nicht einmal blinzeln, zugegebenermaßen schaue ich mir gerne Trophäen und Preise an – an der Vitrine entlangging, sah ich viele Bilder von einer weißen Frau, die ganz anders aussah als Mary Williams. Mary war Afroamerikanerin, und ich begann zu begreifen, dass Jane Fonda eine Weiße war, und ich wusste, ich würde noch mehr Fragen an Mary haben, sobald ich den Inhalt der Vitrine gründlich in Augenschein genommen hatte. Auf vielen der überall im Büro verteilten Fotos war Jane Fonda in knapper Bekleidung zu sehen, Sportkleidung, rosa und lila. Sie schien eine sehr aktive Frau zu sein. Als wir das Büro verließen, fragte ich Achor Achor, ob er mir das alles erklären könne.
– Weißt du denn gar nichts über sie?, sagte er.
Ich wusste natürlich nichts, und so erzählte er mir ihre Geschichte.
Mary wurde in den späten Sechzigerjahren in Oakland in die Welt der Black Panther hineingeboren. Ihr Vater war ein Captain, ein prominentes Mitglied, ein mutiger Mann. Sie hatte fünf ältere Geschwister, die
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