Weit Gegangen: Roman (German Edition)
erweckte, war unterernährt und schlecht gebaut. Kein noch so eleganter Anzug hätte uns die Illusion verschaffen können, in dieser Welt angekommen zu sein.
Das Spiel war der Auftakt zu einer kollektiven Geburtstagsparty, die Mary und ihre Helfer für uns organisiert hatten. Im Anschluss an das Spiel feierten wir unsere Geburtstage im CNN-Center gleich nebenan. Dank Mary, die ihre Beziehungen zu Ted Turner hatte spielen lassen, war uns der Raum zur Verfügung gestellt worden, und die Förderer brachten Brathähnchen, Bohnen, Salat, Kuchen und Limonade mit. Im Vorjahr, vor meiner Ankunft, hatte die Lost Boys Foundation schon einmal so eine Party veranstaltet. Warum feierten wir alle unsere Geburtstage am selben Tag? Das ist eine gute Frage, und die Antwort ist so banal, dass sie schon wieder faszinierend ist. Als wir in Kakuma im Büro des UNHCR erstmals registriert wurden, gab man uns ein Alter, das von den Helfern möglichst genau geschätzt wurde, und für uns alle wurde derselbe Geburtstag festgelegt, der 1. Januar. Bis heute weiß ich nicht, warum. Die UN hätte doch genauso gut verschiedene Daten für uns aussuchen können. Aber das geschah nicht, und obwohl viele von uns inzwischen neue, eigene Geburtstage gewählt haben, sind die meisten beim 1. Januar geblieben. Es wäre auch zu aufwändig, das Datum in allen offiziellen Unterlagen ändern zu lassen.
Auf der Party, zu der manche sogar aus dem fernen Jacksonville oder Charlotte angereist waren, unterhielten wir Sudanesen uns untereinander und mit unseren Förderern. Für jeden Flüchtling gab es ein oder zwei amerikanische Förderer. Die Förderer und Fördererfamilien waren fast ausnahmslos weiß, kamen aber aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Junge erfolgreiche Paare waren ebenso darunter wie ältere Männer mit Truckermützen oder Senioren. Doch die Mehrheit der anwesenden Amerikaner waren Frauen eines bestimmten Typs: zwischen dreißig und sechzig, resolut und warmherzig, die Sorte Frauen, wie sie häufig als Ehrenamtliche in Schulen oder Kirchen anzutreffen ist.
All diese sudanesischen Männer dort zu sehen war überwältigend. Ich ließ den Blick über die Menge schweifen, entdeckte ein Brüderpaar, dem ich beigebracht hatte, wie man Fußball spielt, als die beiden noch Teenager waren. Etliche Jungen kannte ich aus dem Englischunterricht, einen aus der Theatergruppe in Kakuma, und einen anderen wiederum, weil er im Camp Schuhe verkauft hatte. Es war das erste Mal, dass ich mit mehr als einem Dutzend der Jungen von Kakuma zusammenkam, und es haute mich fast um. Dass wir alle überlebt hatten, dass wir alle einen Anzug trugen, neue Schuhe, dass wir in diesem gewaltigen Glastempel des Reichtums standen! Wir begrüßten einander mit Umarmungen und einem offenen Lächeln, viele von uns standen unter Schock.
Eine Gruppe war anders gekleidet als wir Übrigen. Sie trugen Trainingsanzüge, Schirmmützen, Baseballkappen und Basketballshirts, und außerdem Golduhren und -ketten. Diese Männer nannten wir Hawaii 5-0, weil sie gerade aus Hawaii zurückgekommen waren, wo sie als Komparsen in einem Film mit Bruce Willis mitgewirkt hatten. Das stimmt wirklich. Anscheinend kannte einer der freiwilligen Helfer der Lost Boys Foundation einen Casting Director in Los Angeles, der für einen Film unter der Regie eines Afroamerikaners namens Antoine Fuqua Statisten aus Ostafrika suchte. Der Helfer schickte ein Foto von zehn der in Atlanta lebenden Sudanesen nach Los Angeles, und alle wurden engagiert. Frisch zurück von den Inseln, wo sie drei Monate in einem Fünfsternehotel verwöhnt worden waren und ein üppiges Honorar kassiert hatten, wollten die zehn jetzt unbedingt zeigen, dass sie was Tolles erlebt hatten, einfach ein anderes Kaliber waren als wir. Einer von ihnen trug sechs Goldketten über einem Hawaiihemd. Ein anderer lief in einem T-Shirt herum, auf das ein Foto von ihm mit Bruce Willis gedruckt war. Dieser Junge trug das T-Shirt ein Jahr lang jeden Tag, bis vom vielen Waschen das Gesicht von Bruce Willis schließlich fadenscheinig war und gespenstisch wirkte.
Während Hawaii 5-0 herumstolzierten und posierten, gaben wir Übrigen uns tunlichst unbeeindruckt. Bestenfalls freuten wir uns für sie oder konnten mit ihnen darüber lachen, wie absurd das alles doch war. Schlimmstenfalls aber überwog der Neid, viel Neid, und erneut wurde Mary die Schuld gegeben. Sie war es schließlich gewesen, so munkelte man, die die Glücklichen ausgesucht
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