Weit Gegangen: Roman (German Edition)
Familie war arm und zog häufig um. Ihr Vater musste immer wieder wegen Vergehen ins Gefängnis, die mit seinen revolutionären Aktivitäten in Zusammenhang standen. Wenn er auf freiem Fuß war, kämpfte er gegen seine Drogensucht und nahm Gelegenheitsjobs an. Ihre Mutter, einst die erste Afroamerikanerin in der Schweißergewerkschaft, verfiel schließlich dem Alkohol und Drogen. Irgendwann wurde Mary in ein Sommerlager für Stadtkinder in Santa Barbara geschickt, das von der Schauspielerin Jane Fonda auf einer Ranch, die sie speziell zu diesem Zweck gekauft hatte, geleitet wurde. Im Verlauf von zwei Sommern lernte Jane Fonda Mary gut kennen, und schließlich holte sie sie aus ihrer zerfallenden Familie und adoptierte sie. Mary zog von Oakland nach Santa Barbara und wuchs mit Jane Fondas anderen Kindern auf. Fünfzehn Jahre später, nachdem sie das College abgeschlossen und sich in Afrika für Menschenrechte eingesetzt hatte und nachdem ihre Schwester, seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr Prostituierte, auf einer Straße in Oakland ermordet worden war, las Mary einen Artikel über die Lost Boys und gründete kurz darauf ihre Organisation. Das Gründungsgeld stifteten Fonda und Ted Turner, der, wie ich erfuhr, ein bekannter Segler war und mehrere Fernsehsender besaß. Später lernte ich sowohl Jane Fonda als auch Ted Turner kennen, unabhängig voneinander, und ich fand, dass sie sehr anständige Menschen waren, die sich an meinen Namen erinnerten und mir warmherzig die Hand drückten.
Es war nicht das einzige Mal, dass die Lost Boys in Atlanta in Kontakt mit Prominenten kamen. Ich weiß nicht, wieso, aber ich vermute, es hatte mit Marys Engagement zu tun, denn sie setzte alle Hebel in Bewegung, um auf uns aufmerksam zu machen und Geld für die Foundation zu sammeln. Letzten Endes funktionierte es nicht, doch im Verlauf dieser Bemühungen schüttelte ich die Hand von Jimmy Carter und sogar von Angelina Jolie, als sie einmal einen Nachmittag in der Wohnung eines der Lost Boys in Atlanta verbrachte. Das war ein seltsamer Tag. Kurz zuvor hatte man mir gesagt, eine junge weiße Schauspielerin würde kommen, um sich mit einigen Lost Boys zu unterhalten. Wie immer gab es langatmige Debatten darüber, wer uns repräsentieren sollte und warum. Weil ich in Kakuma mit für die Jugendarbeit verantwortlich gewesen war, fiel die Wahl auf mich, was bei den übrigen jungen Sudanesen nicht gerade auf Begeisterung stieß. Mir war das egal, Hauptsache, ich war dabei, denn ich wollte sichergehen, dass unser Leben richtig und ohne allzu große Übertreibungen dargestellt wurde. Schließlich drängten sich zwanzig von uns in der Wohnung eines der Lost Boys, der am längsten in Atlanta lebte, und dann kam Ms. Jolie in Begleitung eines grauhaarigen Mannes mit Baseballkappe herein. Die zwei setzten sich auf eine Couch, wir Sudanesen drum herum, und dann versuchten wir alle, uns Gehör zu verschaffen, während wir uns gleichzeitig bemühten, höflich und nicht übermäßig laut zu sein. Ich muss zugeben, ich hatte vorher nie von ihr gehört. Man hatte mir gesagt, dass sie Schauspielerin sei, und als ich ihr begegnete, sah sie auch tatsächlich wie eine Schauspielerin aus – sie hatte die gleiche anmutige Haltung, den gleichen koketten Blick wie Miss Gladys, meine ungemein attraktive Schauspiellehrerin in Kakuma, und deshalb mochte ich sie auf Anhieb. Ms. Jolie hörte uns zwei Stunden lang zu, und dann erklärte sie, dass sie vorhabe, Kakuma selbst zu besuchen. Was sie, glaube ich, auch getan hat.
In jenen ersten Monaten in den Vereinigten Staaten geschahen so viele interessante Dinge! Und immerzu rief Mary Williams mich an und ich sie, und wir hatten eine sehr produktive Beziehung. Als ich Probleme damit hatte, meine Kopfschmerzen und mein Knie – das ich mir in Kakuma verletzt hatte – behandeln zu lassen, rief Mary Jane Fonda an, und Jane Fonda brachte mich zu ihrem eigenen Arzt in Atlanta. Dieser Arzt operierte mein Knie schließlich, was meine Beweglichkeit beträchtlich verbesserte. Mary war wirklich sehr großherzig, aber die Anmaßungen einiger Sudanesen, denen sie half, hatten sie bereits tief gekränkt, und ihre Augen, die immer so aussahen, als würde sie gleich weinen, verrieten mir, dass sie erschöpft war und sich nicht mehr lange für unsere Sache einsetzen würde. Ich weiß noch, dass ich auf einer Geburtstagsparty zum ersten Mal begriff, wie schwierig das alles für sie war und wie wenig Dankbarkeit sie für ihre Arbeit
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