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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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ungebührlich hereinzuplatzen, normalerweise hätte ich das nie getan. Ich wollte auch nicht, dass sie ihr Gebet oder der Reverend seine Predigt unterbrechen. Aber da ich eben selbst kein großer Kirchgänger war, würde ich mich gerne für sie nützlich machen. Und hätte selbst Jesus nicht seine Jünger am Sabbath Ähren sammeln lassen? Also, könnte ich eine meiner Waffen haben?
    Zu diesem Zeitpunkt war klar, dass ich mich in etwa so unbeliebt wie ein Jongleur auf einer Beerdigung gemacht hatte. Der Reverend zischte mich an, dass es keine weitere Diskussion geben würde, bis der Gottesdienst vorbei war. Dann wandte er mir den Rücken zu und betete zehn Minuten lang mit lauter Stimme. Die meisten in der Gemeinde wandten ebenfalls ihre Gesichter ab, nur ein oder zwei der Kinder starrten mich immer wieder an und mussten mühsam dazu gebracht werden, wegzusehen.
    Ich war so wütend, dass ich kaum ein Wort von dem hörte, was Boathwaite sagte. Meine Gedanken waren bei den Karibus draußen im Wald. Natürlich hatte ich selbst Hunger, aber ich dachte auch an die blassen, mageren Kinder hier in der Kapelle mit ihren gelben Rotzströmen und schmutzverschmierten
Gesichtern, und wie viel besser sie doch mit einem Teller Fleisch als einem Haufen schöner Worte dran wären.
    Aber das half alles nichts – sie murmelten weiter ihre Gebete, und ich schlich mich zornig aus der Kapelle.
    In den nächsten Tagen sprach der Reverend kein Wort mit mir. Er grüßte mich lediglich, wenn er mich sah, aber auch das sehr kühl und reserviert, und die meisten anderen in Horeb folgten seinem Beispiel. Mir machte das nichts aus. Ich hatte genug damit zu tun, meine Pferde zu versorgen, und ansonsten war ich gerne draußen. Karibus sah ich allerdings keine mehr, und das war wirklich ein Jammer.
    Immer wenn Violet mit ihrem Kopftuch von der Kapelle zurückkam – ihre Mutter war zu schwach, um die Hütte zu verlassen –, fragte ich sie, worüber der Reverend so predigte. Sie sagte, die meiste Zeit riet er ihnen, in diesen schlimmen Zeiten die Nähe zu Christus zu suchen, ihn wie eine Streichholzflamme in ihren Herzen zu halten und ähnlichen Blödsinn. Er warnte sie aber auch vor falschen Propheten und den Gefahren eines geteilten Reiches, und mir wurde klar, dass er Meuterer in seinen Reihen nicht sehr schätzte. Zwar fühlte ich mich durchaus geschmeichelt, ihm Stoff für die Predigten zu liefern, aber ich hatte wirklich nicht vorgehabt, ihn zu beleidigen,
und vermutlich waren wir beide froh, als es meinen Pferden wieder besserging und sich meine Gedanken darauf richteten, weiterzuziehen.
    Einige Tage vor meiner Abreise besuchte ich Boathwaite in seinem Quartier. Es war Abend, eine gute Stunde nach dem letzten Gottesdienst des Tages. Er schrieb im Schein einer Lampe in ein Buch, neben ihm auf dem Tisch stand ein Teller mit Essen.
    Als ich hereinkam, legte er den Stift weg und schloss das Buch.
    »Nette Hütte, die Sie da haben, Reverend«, sagte ich. Ich wollte wirklich freundlich sein.
    »Meine Gemeinde sieht es gern, wenn ich es gemütlich habe«, erwiderte er mit monotoner Stimme, als hätte ich ihn kritisieren wollen.
    Ich sagte ihm, ich würde mich für den Aufbruch bereitmachen und mich dafür mit Proviant versehen. Er sah mich mit starrem Gesicht an. Dann sagte ich, dass ich meine Waffen wiederbräuchte, damit ich jagen konnte, ehe ich ging, und dass ich aus Dankbarkeit gegenüber den Menschen in Horeb darauf hoffte, er werde mich, was immer ich erlegte, mit ihnen teilen lassen.
    Der Reverend sagte, wie ich wisse, gebe es eine strenge Verfügung, die das Tragen von Waffen innerhalb der Einfriedung verbot, er würde mir aber meine Waffen aushändigen, sobald ich hinausritt – unter
der Bedingung, dass ich sie wieder in seine Obhut gab, wenn ich zurückkam.
    Ich sagte, damit sei ich einverstanden.
    Ich wandte mich gerade zum Gehen, da fragte er mich auf seine schulmeisterliche Art, was eigentlich mit meiner Haltung zur Religion geschehen sei. Als Kind von Siedlern müsse ich doch im rechten Glauben erzogen worden sein.
    Ich sagte, ich könne persönlich einfach nicht viel daran finden. Religion führe dazu, dass die Menschen schwach vor Liebe werden oder glauben, sie seien besser als andere Leute. Ich sagte, ich habe die Bibel von vorne bis hinten gelesen und halte sie für einen großen Schwindel. Es ist offensichtlich, dass die Leviten sich die ganze Sache zurechtgereimt haben, damit die anderen Stämme sie durchfütterten. Natürlich

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