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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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herzufallen, die ein allzu weiches Herz hatten. Ich erzählte, wie wir einige von uns zu Gesetzeshütern ernannten und es uns zur Aufgabe machten, den Frieden zu wahren, aber zu diesem Zeitpunkt war es längst zu spät. »Jedenfalls waren die Stadtbewohner selbst mit die Schlimmsten. Offenbar besteht das Gute nur, wenn die Zeiten es zulassen.«
    »Nun, wir gestatten uns mehr Hoffnung als das«, sagte der Reverend.
    »In Esperanza war es dasselbe«, fuhr ich fort. »Ich bin auf dem Weg hierher durchgekommen. Und ich schätze, mit Homerton ist es nicht anders.«
    »Wenn das dein Ziel ist, Bruder, kannst du dir die Reise ersparen. Was du hier siehst, ist alles, was von Homerton noch übrig ist.«
    »Aber ich dachte, dieser Ort heißt Horeb.«
    »Man könnte ihn auch New Homerton nennen.« Im Grinsen des Reverend lag kein bisschen Komik.
Er rieb sich mit einer Hand die müden Augen, während er mit der anderen nach den Süßigkeiten griff. Und wie ich so in all die dunklen Rauchfleischgesichter um mich herum sah, dachte ich, wie sehr sie doch den Tungusen ähnelten. Als wären sie mit ihren Europäergesichtern, so ausdruckslos wie weiße Seife, hierhergekommen, und die Kälte und der Wind hätten neue, asiatische Gesichter daraus geschnitzt.
    »Was ist mit Homerton geschehen?«
    Boathwaite schüttelte träge den Kopf. »Ganz ähnlich, wie du sagtest. Am Ende waren wir gezwungen, uns eine schlagkräftigere Variante unserer Glaubensgrundsätze anzueignen. Wir mussten vieles von dem, was uns teuer war, aufgeben.«
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie mein Vater diese Worte sagte. Für ihn aber wäre das einer völligen Niederlage gleichgekommen, aus seinem Mund hätte es bedeutet: Wir kamen hierher und haben alles verloren.
    »Allen Dingen ist eine gewisse Lebensspanne gegeben«, sagte Boathwaite dann. »Man erwartet nur nie, am Ende von etwas dabei zu sein. Man rechnet nie damit, unter den Letzten zu sein.«
    Um ihn herum nickten die Männer oder schlürften munter ihren Tee – wie Kinder, deren Vater ihnen die Sorgen abnahm.
    »Es ist ein großer Segen«, fuhr Boathwaite fort,
»dass ich, da unser Leben so viel härter und einfacher wird, eine solche Nähe zu meinem Gott verspüre.«
    Der Mann mit den großen blauen Augen schluckte seinen Tee rechtzeitig runter, um die Worte des Reverend mit einem »Amen« zu krönen, worin die Übrigen einstimmten.
    Dann erhob sich der Reverend und sagte, ich sei so lange bei ihnen willkommen, wie ich wollte.
     
    Ohne die Waffen fühlte ich mich etwas leichter um die Hüften, wie jemand, der nach einem langen Tag zu Fuß seine Stiefel auszieht.
    Sie stellten mir einen Platz zum Schlafen zur Verfügung in einer Hütte, die einer Frau namens Violet gehörte. Violet briet mir Kartoffeln mit etwas fettem Fleisch und sah mir dann beim Essen zu. Die Hütte hatte einen komischen Geruch, der mir das Essen etwas erschwerte, aber nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt.
    Zunächst schien es, als wären nur wir beide hier, aber hinter einem Tuch, das eine Ecke der Hütte abschirmte, rief auf einmal eine heisere alte Stimme: »Ich sterbe!«
    Violet hob das Tuch an und sagte: »Sei still, Mutter. Wir haben Besuch. Ein junger Mann.«
    Was in doppelter Hinsicht nicht stimmte.
    Aus Höflichkeit stand ich auf und machte einige
Schritte auf den abgetrennten Bereich zu. Eine winzige, zahnlose alte Frau saß dort in ihrem säuerlich riechenden Bett. Sie sah aus wie ein Sack Stöcke. »Ich sterbe!«, rief sie mir zu.
    Violet verdrehte die Augen und ließ das Tuch wieder fallen. »Hör einfach nicht auf sie«, sagte sie.
    Das Bett, das sie mir gab, war ihr eigenes – nicht mehr als eine Pritsche eine Handbreit über dem Boden. Das Holz ächzte, als ich mich darauf niederließ. Violet teilte sich das Bett mit ihrer Mutter, die die ganze Nacht über weiterstöhnte und ständig »Ich sterbe!« rief.
    Mitten in der Nacht erwachte ich, als Violet aufstand, um einen Scheit in den Ofen zu legen. Die Ofenklappe quietschte, und das Licht in der Hütte wurde etwas heller, als der Scheit Feuer fing. Violet schloss die Klappe nicht sofort, sondern machte einige Schritte in meine Richtung und blieb dann neben mir stehen. Ich tat so, als würde ich schlafen. Das Feuer aus dem Ofen fiel orange auf meine Augenlider, und ich konnte ihren Atem hören, der seufzend ihrer Nase entwich, während sie auf mich herabblickte.
    Und dann fühlte ich eine Art Kitzeln und begriff, dass sie meinen Kopf berührte. Sie war ganz

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