Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
hierhergekommen, weil sie nie wieder Gewalt anwenden wollten. Meine eigene Familie schämte sich zu sehr für das, was mir geschehen war, als dass sie etwas gesagt hätten, aber für die anderen, die mit mir trainierten, war es sehr hart.
Ich – ich war ein Kuckuck. Ich habe nie wirklich in diese Welt gepasst. Ich glaube an das Gute. Aber so viele Leute kannten nichts anderes mehr als den Anschein des Guten. Wie die Crashaws und die Steadmans, die kein Fleisch mehr aßen, weil es »gegen Gott« war.
Und so – dank meines Wesens und weil ich ein guter Schütze war und wegen dem, was mir passiert war – akzeptierten mich die Bewohner der Stadt einigermaßen.
Der Mann, der uns ausbildete, hieß Bill Evans. Er stammte aus Alaska, und sie stellten ihm einen Raum über der Bank zur Verfügung, in dem er uns unterrichten konnte.
Ich mochte Bill Evans. Er war fett und mürrisch. Er rauchte und fluchte und hatte keine Geduld mit den Leuten und ihrer Prinzipienreiterei und ihren ewigen Debatten darüber, wie sie uns nennen sollten.
»Zu wenige, zu spät«, sagte er. »Kleines Quäkerstädtchen am Ende der Welt. Ihr braucht keine Polizei. Ihr braucht eine Armee.«
Einige Familien wollten nichts damit zu tun haben. Ungeachtet dessen, was mit ihrer Stadt geschah, zogen sie fort. Ungeachtet all der Überfälle. Ungeachtet dessen, was ihren Töchtern angetan worden war.
Wir erregten den Hass von Menschen, die von sich sagten, dass sie nicht an Hass glaubten. Manche spuckten uns sogar an, wenn wir durch die Stadt patrouillierten. Der Trick war, es nicht persönlich zu nehmen. Sie spürten, wie ihnen die Welt, die sie errichtet hatten, entglitt, und wir waren zum Symbol dafür geworden. Die Stadt war nicht sicher, und sie gaben uns, den Gesetzeshütern, die Schuld daran.
Nun ist das alles längst Geschichte. Die Städte sind verschwunden, und die Leute, die über sie hergefallen sind, sind weitergezogen. Es scheint ganz so, als ob das alles ist, was vom Norden geblieben ist: ich, Horeb, die versprengten Tungusen – und der Geist
einer Hoffnung, der mich mit einem Stück zerbrochener Flugzeugtragfläche kitzelte …
Noah schickt die Vögel in die überflutete Welt hinaus, und einer von ihnen bringt einen Zweig zurück – das war dieses Flugzeug für mich. Es sagte uns, dass wir nicht vergessen waren. Dass noch jemand außer uns die Flut überlebt hatte. Jemand war auf dem Ararat gestrandet – und die Wasser zogen sich zurück.
Manchmal versuchte ich mir vorzustellen, wie diese neue Welt sein würde. Und immer wenn ich das tat, meinte ich, meinen Vater ein wenig zu verstehen, denn die Welt, die ich mir wünschte, ähnelte dem Ort, den er im Sinn gehabt haben musste, als er so weit in den Norden gezogen war. Und ich erkannte, dass es nicht seine Schuld gewesen war. Es war das Wesen unserer Zeit. Menschen tragen alle Möglichkeiten in sich – das Teuflische, das Engelshafte –, und was davon zur Entfaltung kommt, liegt an den Zeiten. Wie das Samenkorn, das Beton spaltet, war es gerade ihr Lebenshunger, der sie so zerstörerisch machte, und es war einfach unser Pech, in Zeiten geboren zu sein, in denen das Überlebensnotwendige so knapp geworden war.
Was mich betrifft – ich mag Menschen umso mehr, je weniger ich von ihnen sehe. Ja, nach zwei Tagen derartiger Gedanken war ich sogar bereit, Reverend
Boathwaite in die Arme zu schließen. Es mag nicht so scheinen, aber ich habe wirklich ein weiches Herz. Da ist ein Feld aus zarter Erde in mir, in das Ping ihre Wurzeln ausstreckte, und es riss mich in Stücke, als sie ging.
Am ersten Tag sah ich kein Wild, aber durch einen glücklichen Zufall stolperte ich am Morgen des zweiten über einige Karibus. Ich streckte die leere Hand aus und rief »Makh, makh« , als würde ich ihnen Salz zum Ablecken bringen, und sie kamen tatsächlich langsam näher. Sie mussten also einmal jemand gehört haben.
Als sie allerdings erkannten, dass da gar kein Salz für sie war, zogen sie sich rasch wieder zurück und verhielten sich sehr argwöhnisch. Ich hätte sie den ganzen Tag herumscheuchen können und keines von ihnen mit dem Seil erwischt, also beschloss ich, die Sache anders anzugehen.
Ich ließ die Hose runter, hockte mich hin und rutschte ein wenig herum, um die Pisse gut im Schnee zu verteilen. Karibus können frischer Pisse einfach nicht widerstehen – die Wärme und das Salz darin sind für sie wie Apfelkuchen. Und so, während sie sich um die frischesten Stellen
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