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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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gibt es da gute Geschichten, aber auch ställeweise Mist: Urim und Thummim … Und überhaupt hat es keine größeren Sünder gegeben als die Könige des Alten Testaments.
    »Interessant«, murmelte Boathwaite. »Sehr interessant. «
    Ich sagte, es täte mir leid, wenn meine offenen Worte Anstoß erregen, das sei eben meine Art, und morgen früh würde ich dann kommen und meine Waffen abholen.
    Er sah mich einen Augenblick lang schweigend an,
dann sagte er: »Manchmal ist Überleben unsere oberste Priorität. Wir haben so viele verloren. Diese Gemeinschaft jedoch hält zusammen. Du bist der Letzte einer ganzen Stadt. Frag dich selbst, durch welche Gnade diese Siedlung überlebte, während andere zerfielen.«
    Ich sagte, mein Glaube an das schiere Glück sei stets unerschütterlich gewesen.
    »Ja«, murmelte er, »vielleicht.«
    Als ich dann in der Dämmerung zurück zu Violets Hütte ging, ging es mir doch durch den Kopf, dass er vielleicht nicht ganz unrecht hatte. Er hatte es irgendwie geschafft, seine Gemeinde zusammenzuhalten, und auch wenn Moses und Mohammed Scharlatane waren, vielleicht war das besser, als die Menschen mit der nackten Wahrheit zu konfrontieren: Dass wir alle hier draußen in der Wüste sind, dass wir allein sind, dass wir alle sterben werden. Selbst wenn das wahr ist, ist es vielleicht nicht das Netteste oder Zweckmäßigste, was man jemandem sagen kann.
    Und als ich im Bett lag und Violets Mutter zuhörte – »Ich sterbe! Ich sterbe!« –, dachte ich: Bin ich vielleicht wütend auf Boathwaite, weil ich ihm glauben möchte, weil ich mich wie ein Kätzchen in den Arm des Allmächtigen kuscheln und mich Seiner Weisheit unterwerfen möchte?

    In dieser Nacht hatte ich wieder einen der seltsamen Träume. Da waren Tausende von Menschen an einem Hafen, die ein riesiges Schiff bestiegen. Heerscharen standen am Kai und warteten darauf, dass es weiterging, und dann waren es schon weniger, und plötzlich schien es, als ob beinahe jeder an Bord war außer ich und ein paar andere Nachzügler – wie seltsame Tiere standen wir da, die Noah zurückgelassen hatte, todgeweiht, bedeutungslos, weil wir zu spät gekommen waren …
    Der Reverend hielt sein Wort, was die Waffen betraf. Kurz vor der Morgenandacht brachte er mich aus der Einfriedung und überreichte sie mir. Ich sagte ihm, ich würde in einem Tag oder so zurück sein, je nachdem, wie es mit der Jagd lief.
    Boathwaite war ganz offensichtlich so erfreut, mich los zu sein, dass er richtig herzlich zu mir war. »Ich kann einen Mann weiterhin respektieren, obwohl ich nicht einer Meinung mit ihm bin«, sagte er. »Es gibt hier viele gute Gefühle, was dich angeht, Bruder Makepeace.«
    Ich dachte, er meinte die Kinderschar, die mir immerzu folgte, weil ich es mir zur Gewohnheit gemacht hatte, ihnen Essensreste zu geben, aber er schien tatsächlich von sich selbst zu sprechen.
    »Sie werden mich doch nicht etwa vermissen, Reverend? «, fragte ich, während ich in den Sattel stieg.

    Er gab keine Antwort, er blinzelte lediglich gegen das Sonnenlicht zu mir auf, ein breites Lächeln auf den Lippen, und ich spürte den ganzen Weg in den Wald seinen Blick auf mir ruhen.

11
    ICH BIN EIN MENSCH, der Bewegung braucht. Ja, manchmal bellt mich mein Körper geradezu an wie ein Hund, der nach draußen will. Das war schon immer so. Mein Vater sagte immer, der Teufel sei in meine Beine gefahren, so wie sie traten und zappelten, wenn ich einen Abend nur mit Herumsitzen und Hausaufgaben verbracht hatte und dann ins Bett musste. Und meine Mutter sagte, als Baby sei es genau dasselbe mit mir gewesen – immer hätte ich gestrampelt und mich gewunden und mit den Armen gerudert.
    Wenn sie mich doch einfach nur im Klassenzimmer hätten herumrennen lassen, ich hätte jede Menge Wissen und Bildung in mich aufgenommen. Nach zwanzig Minuten auf meinem Stuhl aber begannen meine Knie auf und ab zu hüpfen, den Tisch zu bearbeiten, Tinte zu verschütten und mich in die Bredouille zu bringen.
    In der Polizeischule war es anders. Ich war älter, wir waren nur ein halbes Dutzend, und die Zeit im
Klassenzimmer schien sich nicht ewig hinzuziehen. Wir mussten wirklich schnell lernen. Und es hatte etwas Aufregendes. In der Schule zu sitzen hieß gehorchen – wir aber waren ungehorsam, einfach nur, indem wir dort waren. Immer noch begegnete man uns mit so viel Wut, sogar unsere eigenen Familien.
    Man bildete uns aus, Menschen Gewalt anzutun. Und unsere Eltern waren ja eigentlich

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