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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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hatte.
    »Willkommen, Bruder«, sagte er. »Unser verlorener Sohn. Das, was von uns geblieben ist.«
    Und ehe mir etwas einfiel, was ich darauf hätte erwidern können, waren sie schon alle auf den Knien und sprachen ein Erntedankgebet. Ich stand da und kam mir reichlich dumm vor, aber ich wusste, dass ich mir noch dümmer vorgekommen wäre, wenn ich
mit ihnen gebetet hätte, also nahm ich einfach den Hut ab, um meinen Respekt zu bezeugen, und wartete darauf, dass sie zum Ende kamen. Und statt mir jetzt nur dumm vorzukommen, kam ich mir dumm vor und fror mir dabei die Ohren ab.
    Als das Gebet vorbei war, standen sie wieder auf, und es gab eine Pause, als ob sie etwas von mir erwarten würden. Mir wurde einmal mehr klar, dass bei aller Mühsal, mit der ich mich in meinem Leben herumschlug, betretenes Schweigen nur sehr selten vorkam. Ich sah sie an und entdeckte die Gesichter der drei Männer, die ich im Wald getroffen hatte, und auch sie warteten darauf, dass ich etwas sagte.
    Also räusperte ich mich und sagte, wie ich hieß und wo ich herkam, und dankte ihnen für ihre Freundlichkeit. Das schien ihnen allerdings nicht zu reichen, und so fügte ich hinzu, dass sie, obwohl ich bis zum heutigen Tag nie von einer Ortschaft namens Horeb gehört hätte, ihren Vätern alle Ehre machen würden.
    »Amen«, sagte der parfümierte Mann in Schwarz darauf und nahm meinen Arm, um mich hineinzuführen. Der Frau bedeutete er, den Korb mit dem Brot und dem Salz mitzunehmen.
    Dann sagte er: »Bruder, wir können deine Pferde zu unseren in den Stall bringen. Als Zeichen des Friedens aber ersuche ich dich, deine Waffen abzulegen,
solange du unser Gast bist.« Als er mein Zögern bemerkte, fügte er hinzu: »Ich verbürge mich persönlich für sie.«
    Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, weshalb ich ihm vertraute, aber irgendetwas an ihm erinnerte mich an einen meiner Onkel. Er musste so um die fünfzig sein, und ich ahnte, dass er nicht ganz so bierernst war, wie es den Anschein hatte. Außerdem gefiel es mir, wie er seine Leute herumscheuchte, ohne dabei laut werden zu müssen.
    Also legte ich den Waffengurt ab und gab ihn ihm, und dann gingen wir durch das Tor.
     
    Die Siedlung wirkte von innen größer als von außen. Es gab jede Menge Unterkünfte und kleinere Verschläge, die direkt an die Außenwand gebaut waren. Dreißig bis vierzig Leute lebten dort drinnen, darunter Kinder, wenigstens ein Säugling und einige, die zu jung zum Laufen waren. Es war lange her, seit ich das letzte Mal ein Kind gesehen hatte, jedenfalls ein lebendes. Ihre Augen fixierten mich, während ich meinem Gastgeber über den Innenhof zur größten der Behausungen folgte. Sie sahen alle ziemlich gesund aus, vielleicht ein wenig schmuddelig und schmal.
    Im Windfang kämpften wir uns aus den Stiefeln und der Winterkleidung und betraten dann einen
langen, schlichten Raum, der mich an unser altes Versammlungshaus erinnerte, nur dass am hinteren Ende ein Kreuz hing und es einige Bilder von Maria und dem Jesuskind gab, wie man sie dort, wo ich herkam, nicht geduldet hätte.
    Reverend Boathwaite – so stellte er sich vor – lud mich ein, meine Beine an einem flachen, runden Tisch auszustrecken, unter dem ein Kessel heiße Holzkohle stand. Die dicke Tischdecke war aus Baumwolle und hatte etwas Asiatisches. Sechs oder sieben von uns ließen sich dort nieder, die Füße unter dem Tisch von der Kohle gewärmt. Der Reverend legte meine Waffen in eine Kiste, verschloss sie, stellte sie unter den Altar zurück und gesellte sich dann zu uns.
    Der Alte mit den Frostbeulen an der Nase stellte einen verschrammten Samowar und einen Teller Süßkram auf den Tisch, der aussah, als wäre er zehn Jahre alt. Der Reverend goss den Tee ein und reichte die Tassen an uns weiter.
    »Ich werde nicht so tun, als wären dies gute Zeiten für meine Gemeinde«, sagte er.
    »Nein«, erwiderte ich, »aber verglichen mit anderswo geht es euch prächtig.« Die Emailletasse, die man mir gab, war allenfalls halb ausgespült und roch nach Karibu-Eintopf.
    »Ist es schlecht bestellt um Evangeline?«

    Die Männer am Tisch beendeten ihren Kampf um die Süßigkeiten und warteten gespannt auf meine Antwort.
    »Weder gut noch schlecht. Dort ist niemand mehr.« Und dann erzählte ich dem Reverend, was er auf ähnliche Weise schon wissen musste. Die Jahre des Unglücks und der Wanderschaft, als die Flüchtlinge aus dem Süden kamen. All die Hungrigen und Verzweifelten, die kamen, um über die

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