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Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North

Titel: Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Theroux
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sanft, aber mir war überhaupt nicht wohl dabei.
    »Was machst du da?«, fragte ich.

    Sie erschrak nicht und nahm die Hand auch nicht weg. »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«, fragte sie.
    »Jemand hat es verbrannt.«
    »Armes Ding!« Sie streichelte noch eine Weile über mein Gesicht, dann wandte sie sich wieder ab, schloss die Ofenklappe und tappte leise zurück zum Bett der alten Frau.
    Ich habe mich nie selbst bemitleidet. Nie. Aber Violets zarte Geste wühlte mich auf eine Weise auf, wie ich es lange nicht mehr erlebt hatte, und ich lag für einige Stunden wach und dachte an Ping und das Baby, und jede Stunde rief die alte Frau wie eine Kuckucksuhr »Ich sterbe!« mit ihrer hohen, heiseren Stimme, die für uns alle zu sprechen schien.

10
    WIE MAN ES AUCH drehte und wendete, irgendetwas stimmte nicht mit Horeb. Ich hatte nicht die Absicht, länger zu bleiben – aber meine Pferde bekamen in der Nacht eine Kolik, und nun saß ich hier für einige Tage fest.
    Ich legte auch keinen großen Wert darauf, viel länger bei Violet und ihrer Mutter zu hausen. Die Hitze und der Geruch in der Hütte, die Rufe der alten Frau – das alles bescherte mir schlechte Träume. In einer Nacht träumte ich von einer endlosen Kette aus Frauen und Babys, kreischende rote Körper, alle durch die Nabelschnur verbunden, wie eine dieser Familien, die man aus Papier ausschneidet, nur ging diese hier ewig weiter, und die Babys waren selbst wieder Frauen, die eigene Babys hatten, so dass das Ganze, breitete man es aus, bis zur Schöpfung zurückreichte und der ersten aufrecht gehenden Frau überhaupt mit ihrem verkniffenen Affengesicht.
    Man erwartet nie, am Ende von etwas dabei zu sein. Das hatte Boathwaite gesagt.

    Pings Baby war auch ein Mädchen gewesen. Es hatte sich mit seiner eigenen Nabelschnur erwürgt, weil es verkehrt herum im Bauch lag. Diese Linie war also erloschen. Und was meine Linie anging, so war ich ohnehin die Letzte. Keine glitschigen kleinen Frauen würden aus mir herausfallen.
     
    Ich dachte eigentlich, das Leben zu Hause sei mühselig gewesen, aber Horeb war noch schlimmer. Farne und Kletten aus dem Wald ausgraben, dünne, wässrige Suppen zur Essenszeit, Fleisch höchstens zweimal die Woche. Das Einzige, was sie im Überfluss hatten, war Religion. Kirche in großen Portionen, dreimal am Tag. Morgens, mittags und abends versammelten sie sich in der kleinen Kapelle und ließen sich jeweils eine Stunde lang von Boathwaite etwas vorlesen oder predigen. Es kam mir in den Sinn, dass sie besser und mehr zu essen hätten, wenn sie weniger Zeit mit Beten verbringen würden, aber als Gast behielt ich meine Meinung für mich.
    Schon am zweiten Tag beschloss ich, auf die Predigten zu verzichten, und ging in den Wald, um mich dort etwas umzusehen. Ich hatte mich keine fünfhundert Meter von der Palisade entfernt, als ich auf ein halbes Dutzend wilde Karibus stieß, die sich auf der Suche nach Flechten ihren Weg durch das Gebüsch bahnten. Boathwaite hatte meine Waffen,
also konnte ich den Tieren einfach nur zusehen, und das war kaum zu ertragen. Diese Narren saßen mit knurrenden Mägen in der Kirche, und hier, direkt vor ihren Augen, liefen Frühstück, Mittagessen und Abendessen auf vier Beinen vorbei.
    Ich rannte zur Siedlung zurück, wo ein Mann immer Wache stand. Er ließ mich hinein, und ich lief zu der kleinen Kapelle, platzte atemlos durch die Tür, entschuldigte mich für die Unterbrechung, erzählte ihnen von den Karibus, sagte, dass ich ihnen mehr als genug Fleisch bringen würde, um ihre Gastfreundschaft zu vergelten, wenn der Reverend einverstanden wäre, mir eine meiner Schusswaffen wiederzugeben.
    Während ich sprach, wurde das Gesicht des Reverend zu Stein, und kaum war ich fertig, erklärte er der versammelten Gemeinde, dass so, wie viele von ihnen noch nicht die Bekanntschaft mit Bruder Makepeace gemacht hätten, Bruder Makepeace noch nicht die Gelegenheit gehabt hätte, sich mit den Gepflogenheiten Horebs vertraut zu machen, insbesondere damit, dass der Dienst an Gott vor allen anderen Aufgaben kam. Das Verlangen nach Heiligkeit stand vor rein fleischlichen Gelüsten.
    Wäre ich ein wenig klüger gewesen, hätte ich an diesem Punkt aufgehört. Alles hier schien mir zu raten, mir auf die Zunge zu beißen – vom zornigen
Funkeln in Boathwaites Augen bis zu den sprachlosen Gesichtern seiner Gemeinde. Aber das lange Leben alleine hatte mich stur gemacht.
    Ich sagte, es täte mir leid, so laut und

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