Weit weg ... nach Hause
Bett und ruh dich aus. Und drück mir die Daumen.«
Luisa will noch »Viel Glück« antworten, da wird die Tür bereits von außen zugezogen und Katja ist verschwunden.
»Blöde Kuh!«, ruft Luisa ihr hinterher. »Immer sind deine bescheuerten Sachen wichtiger als allesandere auf der Welt.« Zum Glück war Katja schon im Treppenhaus und hat nichts gehört.
Luisa strampelt die Decke mit den Füßen weg, tritt gegen das Oberbett. Sie will nicht heulen.
Sie will auch nicht krank sein, sie will keine Bauchschmerzen haben, und sie will nicht fühlen, wie Tränen ihre Wangen hinunterlaufen.
Entschlossen steht sie auf und kramt ihre Lieblingsanziehsachen aus dem Schrank: eine blaue Trainingshose mit weißen Streifen
und eine hellblaue Flauschstrickjacke mit Kapuze. Dann setzt sie sich an ihren Schreibtisch.
Der Himmel ist bedeckt, nur hin und wieder lugt ein Fitzelchen Blau durch die Wolkendecke.
Luisa öffnet die oberste Schublade und holt eine verzierte, DIN A4 große Mappe heraus. Ihr Skizzenbuch! Das war vor drei Jahren
zusammen mit einer Aquarellstiftebox Großmutters letztes Weihnachtsgeschenk. Für Luisa das Wertvollste, das sie jemals besessen
hat.
Schon seit einiger Zeit schwirrt ihr die Idee zu einer Bildergeschichte durch den Kopf, eine Geschichte für Kleinere, mit
Teufeln und Engeln. Sie hat bereits mehrere Teufel-Entwürfe skizziert und feilt noch an den Figuren.
Gedankenverloren schaut sie eine Weile aus dem Fenster auf die Nachbarhäuser. Die Wohnungen wirken wie ausgestorben. Vor den
Fenstern hängen blickdichte Gardinen. Nur bei der jungen Familie im dritten Stock gegenüber stehen frische Schnittblumen auf
der Fensterbank, und Luisa kann eine Wand mit Bücherregalen erkennen.
Wie unterschiedlich die Menschen leben! Ob andere Mädchen auch so viel Stress mit ihren Brüdern und Müttern haben? Luisa kann
sich das nicht vorstellen. Andere sind ja auch nicht so vergesslich wie sie. Sie ist eben nicht die tolle, perfekte Tochter.
Zumindest entspricht sie nicht Katjas Vorstellungen, das ist sonnenklar: vergesslich, verträumt, langsam, mal aufbrausend
und mal schweigsam – alles Eigenschaften, mit denen man bei niemandem echte Sympathiepunkte sammelt. Und für die Mutter ist
es wichtig, in der Welt gut anzukommen und beliebt zu sein.
Als Luisa ein kleines Mädchen war, hat sie oft gedacht, dass sie gar nicht Katjas Kind ist, sondern im Krankenhaus vertauscht
oder womöglich aus einem Kinderheim adoptiert wurde. Keiner aus ihrer Familie hat schließlich rote Locken und eine blasse
Haut. Solche Gedanken quälten Luisa mancheNacht, wenn der Mond auf ihr Bett schien und sie nicht schlafen konnte, weil die Mutter mal wieder sauer auf sie war.
Unausgeschlafen war sie am nächsten Tag natürlich noch viel vergesslicher.
Luisa fasst ihre unbändigen Locken mit einer Spange zusammen, streckt sich, krempelt die Ärmel hoch, spitzt die weichen Stifte
und beginnt zu zeichnen.
Bild um Bild entsteht die Geschichte vom kleinen Teufel Eddi. Es soll das Storyboard für ihren ersten Trickfilm werden.
Eddi hatte ein trauriges Gesicht und große Augen und er machte sich viele Gedanken, denn seine sieben Geschwister und seine
Eltern sorgten sich um ihn. Nein, er war nicht etwa krank, auch kein Versager in der Schule, es beunruhigte sie auch nicht,
dass er sich Haselnusscreme auf seine Leberwurstbrote schmierte. Ehrlich gesagt, konnte er sogar schon bis hundert zählen.
Es war viel schlimmer: Er war anders als die anderen! Er konnte nämlich nicht richtig böse sein. Das ärgerte die Mutter fast
jeden Tag mindestens einmal und die Brüder und Schwestern lachten ihn aus. Überall, wo er hinkam,schnitten die Kinder Grimassen oder machten hinter seinem Rücken lange Nasen.
Eines Tages hat der Vater einen Plan und er beginnt, mit Eddi kleine Bösartigkeiten zu üben.
Er zeigt ihm, wie man sich in Supermärkte schleicht und Sahne- oder Joghurttöpfe fein löchert, damit sie in den Taschen der
Menschen auslaufen. Und wie man Bananenschalen oder ähnliche Stolpergeräte vor Banken platziert, damit Männer mit dicken Aktentaschen
und Handyapparaten am Ohr darauf ausrutschen.
Eddis Vater will eben klein anfangen. Die großen Bösartigkeiten sollen später folgen. Der kleine Eddi gibt sein Bestes. Er
strengt sich so sehr an, dass sein Kopf feuerrot wird wie eine sonnengereifte Tomate.
Jetzt malt Luisa gerade den Teufelsvater, der auf einem Stein sitzt, verzweifelt den
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