Weiter weg
Genusssucht-Vorwürfen meinte er, nicht viele beschäftigten sich mit Vogelbeobachtung oder Vogelfotografie aus einem umweltschützerischen Impuls heraus, doch befürworteten letztlich die meisten, die diesem Hobby nachgingen, den Schutz der Umwelt. Weiter schrieb er:
Wenn Vogelbeobachter und Vogelfotografen die Freude an der Schönheit und das Entdecken neuer Arten nicht genießen sollen – wenn wir über der Schönheit eines Vogels nicht gefühlvoll aufseufzen dürfen –, woher sollen wir dann die Gründe und die Leidenschaft nehmen, sie zu schützen?
Asroma13 hatte zwei Jahre davor, im Alter von zwanzig Jahren, die Jiangsu Wild Bird Society ins Leben gerufen. Auf Englisch nannte er sich Shrike, Würger. Ich traf mich mit ihm an einem Sonntagvormittag in Nanjing, und während der Fahrt im Taxi zum Botanischen Garten, der auf den dicht bewaldeten Purpurbergen liegt, wurde im Autoradio zufällig von einer Schar durchziehender Schwäne berichtet, die die Wildvogelgesellschaft auf einem See südlich von Nanjing beobachtet habe. Shrike hatte Lokalredakteure während der letzten zwei Jahre mit einem steten Strom von Vogelinformationen versorgt. «Kann man einen Sender oder eine Zeitung für eine Geschichte interessieren, interessieren sich die anderen auch dafür», sagte er.
Shrike war ein großer, sehr jung wirkender Mann mit hohen Backenknochen, der Biomedizintechnik studierte. Er sagte, er kenne jedes Detail einer jeden Vogelart in Nanjing, und ich glaubte es ihm. An einem kalten grauen Tag, auf zwei sehr langsamen Runden durch den Botanischen Garten – wir waren sechs Stunden lang dort – brachte er einen städtischen Park dazu, fünfunddreißig Arten preiszugeben. (An einer Müllkippe stießen wir auch auf drei wildlebende Katzen, die einzigen Säugetiere, die ich in meinen Wochen in China frei herumlaufen sah.) Eine auf ein Stativ montierte Kamera auf der Schulter – wie ein kleines Kreuz, das er für die Natur trug –, führte Shrike mich im Unterholz herum, bis wir einen Huamei, einen Augenbrauenhäherling, zu Gesicht bekamen, einen der charismatischsten und beliebtesten Singvögel Chinas. Das Gefieder des Huamei war ein kräftiges Braun mit Ausnahme der irren weißen Brille, von der sich sein Name herleitet (wörtlich: «gemalte Augenbraue»). Er scharrte in gefallenem Laub wie eine Grundammer, nervös, uns wachsam beobachtend. Anderswo in den Purpurbergen, sagte Shrike, würden Netze ausgelegt, um den Huamei zu fangen, aber der Zaun um den Botanischen Garten halte Wilderer fern.
Shrike war in Nanjing aufgewachsen, als einziges Kind eines Professors für Maschinenbau und einer Fabrikarbeiterin. Mit sechzehn kaufte er sich ein Fernglas und sagte sich: «Ich sollte rausgehen und mir Tiere ansehen.» Auf den Umschlag eines Notizbuchs schrieb er «ÖKOLOGISCHE AUFZEICHNUNGEN» und ging damit in den Botanischen Garten. Der erste Vogel, den er sah, war eine Kohlmeise (eine farbenfrohe Verwandte der Schwarzkopfmeise). Ein halbes Jahr später radierte er das Wort «ÖKOLOGISCHE» auf dem Notizbuch aus und schrieb «VOGEL-» hin. 2005 kam er übers Internet in Kontakt mit einem anderen Vogelbeobachter, einem Kadetten der Polizeiakademie. Die beiden schlossen sich zu einem Forum zusammen, aus dem dann die Jiangsu Wild Bird Society wurde. Die Gruppe hatte inzwischen rund zweihundert Mitglieder, darunter zwanzig, die Shrike als «sehr aktiv» bezeichnete, aber anders als ihr Pendant in Shanghai existierte sie offiziell gar nicht. «Wir sagen im Spaß, dass wir eine Untergrundorganisation sind, die überall entlarvt ist», sagte Shrike. «Jetzt kennen uns immer mehr Leute in der Stadt, weil in den Nachrichten oft über uns berichtet wird. Manchmal, wenn wir unterwegs sind und Vögel beobachten und Leute vorbeigehen, hören wir sie zueinander sagen: ‹Oh, die beobachten Vögel.›»
Die größte Bedrohung für Vögel in China neben Verschmutzung und Verlust von Lebensraum ist die Jagd. Es ist weit verbreitet, wenn auch illegal, sie mit Netzen und Gift zu fangen, um sie dann zu verspeisen. In manchen alten Städten, auch in Nanjing, werden Wildvögel oft als Haustiere verkauft oder an Buddhisten, die sie bei Festen fliegen lassen, da sie glauben, freigelassene Vögel erzeugten ein gutes Karma. (Eine Nonne aus einem Kloster nahe Nanjing sagte mir, die Mönche seien bei der Art der Tiere, die sie freiließen, nicht wählerisch, es zähle nur die Menge.) Shrike zufolge können die Gesetze gegen den Verkauf von
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